Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
schuld, und die Deutschen, die ihr alles haben
weggenommen. Das kann man zwar nicht beweisen, aber ich bin davon überzeugt, dass
sie dadurch verloren hat die Lust am Leben.«
»Sie meinen
damit auch den Bruder Ihrer Mutter?«, fragt Ove Toksvig.
»Einen Bruder?
Meine Mutter hatte keine Bruder!« Sandi Sjøqvist wirkt empört. Sie blitzt den Dänen
mit feindseligen Augen an.
»Es ist
aber so, Frau Sjøqvist!«, beschwört der Däne. »Sie hatte einen Bruder! Er wurde
von den Nationalsozialisten ermordet. Jedenfalls geht das aus einem Brief hervor,
den der Bruder Ihrer Mutter geschrieben hat.«
Swensen
zieht wortlos die Kopie aus seiner Jackentasche, faltet sie auseinander und reicht
sie der Frau. Die kneift den Mund fest zusammen, als hätte sie Angst, die geschriebenen
Worte zu verschlucken. Ihre Augen weiten sich, tasten über die Zeilen, verweilen
an einigen Stellen, verschließen sich urplötzlich vor dem Geschriebenen, um im nächsten
Moment unter Tränen weiterzulesen. Eine Ewigkeit scheint zu vergehen, dann sinken
die Hände mit dem Papier auf ihren Schoß. Sandi Sjøqvist ist am Ende ihrer Kräfte,
sie verliert den letzten Halt und schluchzt minutenlang leise vor sich hin. Swensen
möchte am liebsten gehen, doch er bleibt erstarrt sitzen, als gebe es eine Anordnung,
dass er sich nicht bewegen darf.
»Ich habe
es schon immer gewusst!«, platzt der aufgestaute Zorn aus Sandi Sjøqvist heraus.
Ihre Stimme klingt durchdringend und außer Kontrolle. »Es waren die Deutschen, sie
sind schuld am Tod meiner Mutter. Ich möchte nicht gefragt werden weiter von Deutschen!
Verlassen Sie sofort mein Haus!«
Die Frau
springt auf, geht entschlossen zur Haustür. Swensen spürt Scham hochsteigen, als
wäre er ein Hund, der vom Hof geprügelt wird. Er möchte nur noch raus, tritt hinter
Ove und Silvia in den Hof.
»Das Erreichen von Wahrhaftigkeit
erfordert zu jeder Zeit Mut und Entschlossenheit!«
Der Hauptkommissar spürt einen Kloß
im Hals, doch die Worte von Meister Rinpoche bewegen ihn, sich noch einmal umzudrehen.
»Die Dose?«
Er muss die Worte fast herauswürgen. »Wo ist die Dose Ihrer Mutter geblieben? Gibt
es sie noch oder haben Sie sie weggeworfen?«
Einen Moment
steht Sandi Sjøqvist entgeistert in der Haustür, einem Cherubim gleich, doch dann
legt sich eine ganz leise Traurigkeit über ihr Gesicht.
»Nein, die
Dose wurde nicht weggeworfen. Meine Tochter hat sie mitgenommen, damals, als wir
zusammen haben ausgeräumt die Wohnung meiner Mutter.«
*
Die Fahrt über wird der Hauptkommissar
vom Schweigen erdrückt, das Motorengeräusch dröhnt ihm monoton in den Ohren. Ab
und zu bleibt der Wagen an einer Ampel stehen, und im Stillstand ist die Spannung
im Innenraum noch belastender. Swensen zieht sich tief in seine innere Leere zurück,
kaut nervös auf den Lippen und schaut teilnahmslos auf die vorbeiziehende Landschaft,
die ihn nicht wirklich erreicht. Er kennt dieses Gefühl von Sprachlosigkeit aus
seinem Elternhaus, und die Vorwürfe von Sandi Sjøqvist lassen die entsprechenden
Bilder aus seiner Jugend auferstehen. Die Mutter, die immer nur darum besorgt war,
dass auch genug zu essen auf dem Tisch steht. Der Vater, der sich darüber freut,
dass der Sohn sein brotloses Philosophiestudium hingeschmissen hat und zur Polizei
gehen will. »Als Beamter hast du immer einen sicheren Arbeitsplatz, Junge, und am
Ende bekommst du eine angemessene Pension.«
Vielleicht
bin ich nur zur Polizei gegangen, brütet Swensen, weil ich die Kriegsschuld, die
mein alter Herr in Polen und Russland hinterlassen hat, wieder gutmachen wollte.
Warum habe ich als Jugendlicher die fixe Idee entwickelt, niemals zu heiraten? Warum
habe ich mich vor nun fast 20 Jahren sterilisieren lassen? War ich wirklich davon
überzeugt, in diese unbelehrbare Welt keine Kinder setzen zu können?
»Bist du
noch immer davon überzeugt, dass wir nicht irgendwelchen Gespenstern der Vergangenheit
hinterherlaufen?« Silvias plötzliche Frage hört sich an, als kommentiere sie seine
Gedanken. Nur unwillig kehrt er in die Gegenwart zurück. »Ich kann mir beim besten
Willen nicht vorstellen, wie wir in dem braunen Sumpf, in dem wir jetzt rumrühren,
ein Mordmotiv entdecken können.«
»Frag mich
was Leichteres, Silvia«, antwortet Swensen verlegen lächelnd. »Ich kann jetzt aber
nicht einfach aufhören. Zumindest will ich noch in diese Dose reinschauen.«
Der Rest
der Strecke verläuft genauso wortlos. Sie erreichen Klitmøller,
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