Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
Traumakongress, den hab
ich nicht vergessen. Es ist gestern nur wieder ziemlich spät geworden.«
»Schlaf
einfach weiter, ich bin schon weg«, flüstert sie ihm ins Ohr und verschwindet durch
die Tür. Wenig später hört Swensen die Dusche im Bad. Das rauschende Wasser zieht
die Augenlider herab, Trugbilder überfallen ihn, geistern durch seinen Halbschlaf.
Er sieht eine dunkle Gestalt in einem Boot den Strom hinabgleiten, hört den Takt
der Ruderschläge. Vom Ufer blitzen vereinzelte Lichter aus dem Nebel des dämmrigen
Morgens. Mit dem tiefen Ton einer Schiffssirene taucht ein Kopf hinter dem Geländer
einer Brücke auf, ein schwarzes Gesicht ohne Antlitz, verborgen hinter einer scheußlichen
Maske aus Gummi und Glimmer. Das Lampenlicht wird reflektiert in den Glasaugen,
färbt sie gelb wie die einer Schlange. In der Hand eine Harpune, den Ellenbogen
auf das Geländer gestützt. Ein Gummifinger schiebt sich hinter den Abzug.
Zoom!
Der Mann
im Boot, einen Pfeil im Rücken, kippt lautlos über Bord und versinkt in den Fluten.
»Du willst
meinen Namen wissen? Den erfährst du, wenn du ihn von mir selbst empfangen hast.«
Die Gummimaske des Froschmanns ist bedrohlich nah. Swensen streckt die Hand aus,
packt das Gummi, um es vom Gesicht zu reißen. Doch es ist so schmierig glatt, dass
er es nicht fassen kann.
Der Hauptkommissar
erwacht zum zweiten Mal. Seine Hand ist ins zerknüllte Bettlaken gekrallt. Er spürt
das schweißnasse Kopfkissen, schaut zur Decke und überlegt, was seine Seele ihm
mit diesem merkwürdigen Traum wohl sagen will.
»Das Gasthaus
an der Themse«, wird die Frage innerlich beantwortet. Das ist die Anfangsszene aus
diesem uralten Wallace-Film, den sie vor drei Wochen zum wiederholten Mal im Fernsehen
gezeigt haben. Und aus dem Nichts sind die Bilder der vergangenen Nacht wieder präsent,
der Mann mit dem Pfeil in der Brust. Silvia hatte ihn nach Mitternacht noch am Tatort
angerufen und informiert, dass der Mann verstorben war, bevor sie mit ihm reden
konnte. Die Ärzte hatten den Widerhaken abgesägt und den Pfeil herausgezogen, einen
Harpunenpfeil, wie er von Tauchern benutzt wird. Die Hauptkommissarin hatte die
beiden Teile, bevor sie in den Müll geworfen wurden, für die Spurensicherung sicherstellen
können.
Es ist bitter,
denkt Swensen, aber wir haben einen neuen Mordfall.
Er erhebt
sich mühsam, streckt die Glieder, schlurft ins Bad hinüber und stellt sich unter
die Dusche. Während das heiße Wasser ihm die Müdigkeit vom Körper spült, klingt
das Lied der Gasthausbesitzerin Nelly Oaks in seinem Ohr, gesungen von der unvergessenen
Schauspielerin Elisabeth Flickenschildt.
»Was in
der Welt passiert und was uns amüsiert, geschieht besonders in der Nacht. Auch was
man Liebe nennt, so wie’s der Fachmann kennt, geschieht besonders in der Nacht.
Von abends bis morgens tut sich so mancherlei, und wenn es hinterher in jeder Zeitung
steht, weiß es sogar die Polizei.«
Auf der Fahrt nach Husum will ihm
das kleine Lied nicht aus dem Kopf gehen. Er summt es leise vor sich hin, überlegt,
warum jemand auf die obskure Idee kommen konnte, einen Menschen mit einer Harpune
umzubringen, und beschließt in einem Anflug von Humor, es – wie im Lied – einfach
in der Zeitung nachzusehen. Susan Biehl schwebt ihm in einem hellblauen Leinenkleid
auf der Treppe in den ersten Stock entgegen. Ihr Gesicht ist blass und ihre Mimik
wirkt angespannt: »Mensch Jan, hallo! Ich hab’s schon gehört, von gestern Nacht!
Wie geht’s dir?«
»Kannst
du dir ja denken. Schlecht geschlafen, zu viel gegrübelt, das Übliche. Eine Harpune
als Mordwaffe hatte ich in meiner Laufbahn bisher noch nicht. Ungewöhnliche Art,
um sich jemandes zu entledigen, findest du nicht?«
»Vielleicht
ein Sporttaucher? Liegt doch auf der Hand!«
»Könnte
man meinen, mir allerdings zu simpel. Ich mach mir erst mal einen Tee, dann kann
ich besser denken. Bist du eigentlich dieses Jahr wieder im Organisationsteam der
Poppenspäler-Tage?«
»Sehr wahrscheinlich,
aber da ist noch reichlich Zeit, bevor es in die heiße Phase geht.«
»Na dann,
einen schönen Tag noch, Susan!«
»Dir auch,
Jan!«
Der Hauptkommissar
hebt die Hand zum Gruß und steigt den Rest der Treppe hinauf. In der kleinen Teeküche
holt er seine Blechbüchse aus dem Hängeschrank, nimmt den gepressten Ziegel Pu-Erh-Tee
heraus und schneidet mit dem Messer einen kleinen Brocken ab. 15 Minuten später
trabt der Hauptkommissar mit dampfender Teekanne und
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