Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
einer Tasse in den Konferenzraum.
Normalerweise ist er immer der Erste, der den Raum betritt, doch heute sitzt Jean-Claude
Colditz vom K1 in Flensburg bereits am Tisch und betrachtet Fotos auf seinem Laptop.
»Jean-Claude«,
grüßt Swensen erstaunt, »seit wann ist die Flensburger Truppe vor Ort?«
»Zu spät,
wie es aussieht«, entgegnet der trocken. »Ihr wart alle auf Achse, und am Tatort
gab es für mich nichts mehr zu sehen. Zum Glück hat Silvia wenigstens einige Fotos
geschossen. Ich schau sie mir gerade an, aber wirklich aufschlussreich sind sie
leider nicht.«
»Die Sanitäter
haben wahrscheinlich keine verwertbaren Spuren mehr übrig gelassen. Meine ersten
Befragungen waren auch nicht sehr ergiebig. Ich befürchte, dieser Mord könnte ein
zäher Fall werden.«
»Ich bin
nach meiner Ankunft gleich ins Krankenhaus und konnte noch mit Silvia sprechen.
Der Tote ist ein gewisser Oleander Eschenberg, wohnhaft in Flensburg.«
»Aus Flensburg?«
»Ja, er
soll dort eine kleine Berühmtheit in der Surfer-Szene sein, behauptet ein Kollege
aus meinem Team. Der kannte den Eschenberg persönlich, kauft seine Surfausrüstung
in dessen Geschäft. Die Mutter hat das mit dem Laden bestätigt. Und es gibt anscheinend
einen zweiten Inhaber. Die Mutter war übrigens außergewöhnlich gefasst, keine Tränen,
keine Gefühlsregung.«
»Das sagt
nicht viel, Jean-Claude, ich hab sie völlig anders erlebt«, sagt Swensen. »Es gibt
einen zweiten Inhaber?«
»Ein gewisser
Moritz Krüger.«
»Ich werde
mit ihm reden, möglichst bald.«
»Der Vater
machte fast den Eindruck, als ginge ihn das alles nichts an. Hat meine Fragen fast
stoisch beantwortet, ohne eine Miene zu verziehen. Er fragte ein paar Mal, wann
der Sohn beerdigt werden kann. Bei ihm steht wohl ein längerer Einsatz an, Operation
›ENDURING FREEDOM‹, und er müsse das wissen. Wirkte irgendwie abgespalten, merkwürdiger
Typ, finde ich.«
»Menschen,
die trauern, verhalten sich meist anders, als wir erwarten.«
»Das weiß
ich doch, Jan. Aber in diesem Fall war es anders, auffällig anders.«
»Der Großvater
war nicht im Krankenhaus?«
»Nein, warum
fragst du?«
»Wenn sich
jemand merkwürdig verhalten hat, dann der, kann ich dir sagen. Der hatte gestern
eine riesige Feier, seinen 85sten, aber als ich ihm das Foto seines Enkels gezeigt
habe, hat er getan, als würde er ihn nicht erkennen.«
»Was? Hört
sich völlig abgedreht an. Bis du dir da wirklich sicher, Jan?«
»Du kannst
es mir schon glauben, Jean-Claude!«
»Mach ich
ja, klingt aber schon sehr suspekt. Da sollten wir dranbleiben. Warten wir auf die
Kollegen und besprechen die Fakten, dann sehen wir weiter.«
Swensen
nickt, setzt sich, gießt Tee in die Tasse und nimmt einen Schluck. Er spürt den
erdigen, torfigen Geschmack auf der Zunge. Mit müden Augen schleichen die ersten
Kollegen in den Raum. Oberkommissar Rudolf Jacobsen lässt sich direkt neben ihm
auf dem Stuhl nieder und knallt die Husumer Rundschau auf den Tisch. Die Schlagzeile
›Folternde Befreier‹ prangt in schwarzen Buchstaben auf der Titelseite. Swensen
überfliegt den Artikel aus dem Augenwinkel. Es geht um die grausamen Misshandlungen
von Gefangenen in Abu Ghraib und darum, dass George Bush und sein Kommandant Mark
Kimmit natürlich entsetzt sind und ›Verweise‹ hageln lassen. Die Bilder sind schon
vor längerer Zeit durch die Medien gegeistert. Swensen hatte sie im Fernsehen gesehen,
und während er die Titelseite der Zeitung auf die andere Seite dreht, hat er die
Abbildung des Gefangenen vor seinem Auge, der in einem braunen Leinenumhang auf
einem Pappkarton steht, eine Kapuze über dem Kopf und Stromdrähte an den ausgebreiteten
Händen.
Eine amerikanische
Vogelscheuche, assoziiert er und spürt eine tiefe Ohnmacht im Bauch, gegenüber den
Mächtigen, ihren Begriffen von Gerechtigkeit. Er fragt sich nach dem Sinn seiner
Arbeit, was sie eigentlich wirklich ausrichten kann. Gedanken und Gefühle, die ihn
meistens überfallen, wenn es einen schwierigen Fall zu bearbeiten gibt. Und plötzlich
ist es wieder da, das kleine Lied der Nelly Oaks.
»Von abends
bis morgens geschieht so mancherlei. Und wenn es hinterher in keiner Zeitung steht,
merkt es auch nicht die Polizei.«
Jacobsen
greift seine Zeitung und zieht sie zu sich an seinen Platz.
»Es steht
nichts drin, was uns weiterhelfen könnte«, bemerkt Swensen beiläufig. Jacobsen schaut
ihn verwundert an, und als sein Kollege nichts Weiteres dazu sagt, schüttelt
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