Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
Kollegen zurechtzuweisen, doch Meister Rinpoche stoppt
seine Bemühung.
»Wenn du lange Zeit meditiert hast,
dich sehr angestrengt hast, deine Achtsamkeit und Gelassenheit zu trainieren, kann
eine gewaltige Arroganz in dir entstehen. Du hast das Gefühl, deine Anstrengungen
machen dich zu einem wertvollen Menschen. Wenn du in diesem Gefühl einem anderen
Menschen begegnest, der es deiner Meinung nach noch nicht so weit gebracht hat,
möchtest du ihn herabsetzen. Deine Handlungsweise darauf ist ganz einfach: Tu es
nicht!«
Der Hauptkommissar atmet tief durch
und schweigt.
*
Swensen erreicht den Ortseingang
von Tating. Den Ärger auf seinen Kollegen hat er aus der Inspektion mitgenommen,
er hat sich in seinem Kopf breitgemacht, und darüber ist er genauso verärgert. Er
muss an die Zeit im Schweizer Tempel denken, als die klaren Worte seines Meisters
ihn unmittelbar erreichten, ohne das störende Beiwerk der Wirklichkeit.
»Wenn du
die Vergangenheit kennen möchtest, schau deinen Körper an. Wenn du deine Zukunft
kennen möchtest, schau deine Handlungen an.« Mit diesem Satz wollte der Lama seinen
Schülern den Begriff des Karma näher bringen. »Bedenkt immer, nur im Hier und Jetzt
erwacht unsere Eigenschaft, gemeinsam Mensch zu sein, in der wir gemeinsam erleben,
wie es ist, geboren zu sein. Im Hier und Jetzt verbindet uns alle ein kollektives
Karma, ein spezielles Erbe aus der Vergangenheit, welches zu diesem jetzigen Leben
geführt hat. Es ist das universelle Gesetz von Ursache und Wirkung.«
Swensen
bremst seinen Polo auf Ortsgeschwindigkeit herunter, und das Wort Vergangenheit
kriecht zu ihm in seine Gegenwart, fährt im Auto mit durch die flache Landschaft
von Eiderstedt.
Ursache
und Wirkung, dann wäre jede Handlung, die mein Vater in der Vergangenheit getan
hat, heute noch wirksam, grübelt der Hauptkommissar und ahnt gleichzeitig, dass
er den Karma-Begriff wohl nie richtig begreifen wird. Ein schwarzes Fotoalbum mit
Reichsadler und Hakenkreuz kommt ihm in den Sinn. Die silberne Inschrift ›Infanterie-Regiment
76‹ hat ihn als kleinen Jungen magisch angezogen. Heute liegt es unbeachtet in irgendeiner
seiner Schrankschubladen. Doch die Fotos darin sind noch immer Gegenwart. Sein Vater
auf dem Polenfeldzug, Haubitzen, ein Maschinengewehr auf Rädern, zerstörte Panzer,
zerbombte Städte. Russen mit mongolischen Gesichtszügen auf einem Lastwagen, die
in die Kamera des Vaters gucken, Gewehre in den Händen.
Sein Vater
ist schon vor langem gestorben, die Vergangenheit hinterm Albumdeckel bleibt weiterhin
präsent. Bilder, bei denen sein Finger den Auslöser betätigt hat, eine gewesene
Wirklichkeit, die seine Augen gesehen haben. Und sind Bilder der Vergangenheit,
die nicht fotografiert wurden, genauso existent? Werden sie ebenso weitergegeben,
von Generation zu Generation? Hätte das nicht ungeahnte Konsequenzen für jeden der
Nachkommen, auch wenn er mit dem, was damals passiert ist, vordergründig nichts
mehr zu tun hat?
Das Licht
an der Küste verzaubert ihn. Die Sonne bricht durch die Wolken, sticht ihren Strahlenkranz
in den Horizont. Die geduckten Bauernhäuser treiben vorbei, und in der klaren Luft
kann Swensen die Hochhäuser von St. Peter sehen.
Kann es
sein, dass die NSDAP-Vergangenheit von Kreuzhausen senior bis zum Mord seines Urenkels
reicht?
Swensen
erinnert sich an den Artikel in der Husumer Rundschau. Selbst nach der Nazi-Zeit
hatte der feine Herr seine Handlungsweise nicht verändert. Er nahm einfach wieder
seine alte Juristenlaufbahn auf und wurde Staatsanwalt in Kiel. Dort hatte er den
ehemaligen Gauleiter Hinrich Lohse zu den Judenpogromen in Schleswig-Holstein vernommen
und sich von ihm Märchen erzählen lassen.
»Ich war
damals in München und erfuhr am nächsten Tage von den Ausschreitungen«, hatte Lohse
wortwörtlich ausgesagt. »Als ich einige Tage später nach Kiel zurückkam, habe ich
mir von dem damaligen Gauinspekteur Beckmann – der gefallen ist – Bericht erstatten
lassen. Dass vor dem Brand auf der SA-Gruppe eine Besprechung stattgefunden haben
soll, war und ist mir nicht bekannt. Ich weiß also nicht, von welcher Organisation
der Plan ausgegangen ist.«
Kreuzhausen
junior hat ihm diese eindeutige Lüge durchgehen lassen und vermerkt: »Lohse macht
unwiderlegbar geltend, dass er in dieser Nacht zur Feier des 9. November 1938 in
München gewesen sei.«
Dem Flensburger
Polizeidirektor und SS-Führer Hinrich Möller, der auch in Friedrichstadt dabei
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