Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
typisch
norddeutscher Mentalität«, versucht er abzuwiegeln.
»Wortkarg
wie die Friesen, mein Lieber«, hakt Anna nach. »Erzähl schon, was ist los mit dir?«
»Eigentlich
nichts Besonderes, mir geht nur gerade mein Vater durch den Kopf, warum er freiwillig
in den Krieg gezogen ist? Manchmal steigt ein Gefühl in mir hoch, als schleppe ich
seine Altlast mit mir herum. Du hast mal etwas von einem kollektiven Unbewussten
erzählt, weißt du noch?«
»Du meinst
die Lehre von C.G. Jung, diesem Schweizer Psychiater. Der hat von einer Art psychischem
Erbe der Menschheitsgeschichte gesprochen.«
»Genau,
daran habe ich gedacht, als ich an meinen Vater denken musste! Ich habe mich gefragt,
ob es auch ein kollektives Trauma geben könnte, ein Erbe des Krieges, das an uns
Kinder weitergegeben wurde?«
»Eine spannende
Idee, aber im klinischen Sinne werden nur Einzelpersonen traumatisiert. Das hast
du doch selbst am eigenen Leibe erfahren, denk nur an die Zeit zurück, als du an
PTBS gelitten hast.«
»Meine posttraumatische
Belastungsstörung?«
»Die meine
ich. In der Traumatheorie, das wurde gerade auf meinem Kongress behandelt, gibt
es verschiedene Konzepte. Nicht ganz einfach zu erklären, aber kurz nach dem 11.
September 2001 kam tatsächlich kurzfristig der Begriff eines kollektiven Traumas
auf. Dabei haben sich die Psychologen aus dem Symptomkatalog der PTBS bedient: Eine
verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignisses mit Albträumen und sich aufdrängenden
Erinnerungen. Erinnere dich an deine Flashbacks, als du immer wieder die ermordeten
Kinder gesehen hast.«
»Solche
Erfahrungen hat mein Vater im Krieg bestimmt auch gemacht.«
»Das ist
anzunehmen, aber daraus muss sich nicht notgedrungen ein Trauma entwickelt haben.
Die Sache ist wesentlich komplizierter. Auf dem Kongress gab es einen Vortrag über
den deutschen Militärarzt Erich Simmel. Der hat schocktraumatisierte Soldaten im
Ersten Weltkrieg behandelt und später dazu geschrieben, dass schon ein Vorgesetzter,
der die Verantwortung übernimmt, dem Soldaten in einer unüberschaubaren Kriegssituation
ein Gefühl der Sicherheit und sogar eine Immunität gegen Todesangst geben kann.«
»Das gibt
es? Wirklich?«
»Ja, die
Psychologin Anna Freud hat Ähnliches bestätigt. Sie schrieb über Londoner Kinder,
die während der deutschen Luftangriffe gegen ein Trauma gefeit waren, wenn sie bei
Bombardierungen bei ihren Eltern waren und sich geschützt fühlten. Erst wenn auch
die Eltern Angst zeigten oder sie von den Eltern getrennt wurden, wirkten sich die
Schrecken des Krieges traumatisch aus. Und noch verrückter! Eine historische Untersuchung
belegt, dass die Deutschen während der alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte
eine stärkere Führerbindung und einen größeren Antisemitismus entwickelten. Der
Soziologe Jan Lohl spricht in dem Zusammenhang von der ›Schiefheilung‹ eines Traumas.«
›Der Geist
ist ein Boot, das über das Meer der Seele gleitet.‹ Swensens Gedanken haben sich
nach und nach mit den Fakten verknäuelt, unentwirrbar, auch die Vorstellung eines
traumatisierten Täters, der Oleander Eschenberg ermordet haben könnte, ist in dem
Wust verknotet.
*
»Wir möchten gern mit Herrn Bieling
sprechen«, bittet Hauptkommissarin Silvia Haman die junge Frau im taillenbetonten
Blazer, die hinter dem gelben Informationstresen der Bankfiliale steht.
»In welcher
Angelegenheit?«, fragt ihre distanzierte Stimme zurück. Ihre Körperhaltung verrät,
dass ihr die maskuline Frauengestalt, die vor ihr steht, nicht sonderlich gefällt.
Silvia Haman ist das nicht entgangen, ihre Stirn legt sich in Falten.
»Darum!«,
bricht der Ärger aus ihr heraus, und sie hält der Bankangestellten ihren Dienstausweis
dicht vor die Nase.
»Es tut
mir leid, aber Herr Bieling ist momentan nicht im Hause«, reagiert die Frau in einem
bemüht freundlichen Tonfall.
»Was heißt
das?«, fragt Silvia Haman schroff. »Kommt er heute noch wieder oder ist er im Urlaub?
»Er hat
ein paar Tage freigenommen, die Beerdigung eines Freundes, soweit ich weiß.«
»Seine Handynummer!«
Hauptkommissar
Swensen geht auf Distanz, tritt einige Schritte zurück. Der aggressive Grundton
seiner Kollegin ist ihm heute besonders unangenehm. Normalerweise gelingt es ihm,
sich nicht mit ihrer Person zu verstricken, Silvia einfach nur zu beobachten, ohne
zu bewerten, wie sie mit der Welt umgeht. Heute glückt ihm das nicht, und er stellt
sich die Frage, woran es liegen
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