Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
war,
ging es nicht viel schlechter. Obwohl 1947 wegen antisemitischer Ausschreitungen
und wegen zweier verübter Morde zum Tode verurteilt, wurde er wenig später von SPD-Ministerpräsident
Lüdemann zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Schon 1954 setzte CDU-Ministerpräsident
Kai Uwe von Hassel die Gesamtstrafe auf 15 Jahre herab, und 1957 wurde Möller bereits
frühzeitig entlassen.
Ursache
und Wirkung? Was ist die Wirkung heute, wo ist sie zu finden, fragt sich Swensen
und passiert mit seinem Wagen Brösum. Die Eiderstedter Weite öffnet sich vor ihm,
Wiesen, Schafe, Rinder, traditionelle Reetdachbauernhöfe. Es geht schnurgerade in
Richtung Küste. Swensen steuert rechts am Küstendeich entlang bis zu einem kleinen
Parkplatz für Touristen, zahlt an dem kleinen Glashäuschen 2.50 Euro und parkt seinen
Polo auf dem Grasplatz neben der großen Scheune. Als er aussteigt, sieht er Peter
Hollmanns BMW zwischen den Fahrzeugen stehen. Er muss ihn aus der Reparatur zurückbekommen
haben. Der Hauptkommissar geht zur Treppe, die auf die Deichkrone führt. Oben weht
eine scharfe Brise landeinwärts. Er knöpft die Jacke zu, schlägt den Kragen hoch
und hofft, dass der Wind ihm seinen Kopf frei bläst. Die Wattlandschaft vor der
Tümlauer Bucht, besonders wenn die Sonne sie zur weißen Fläche macht, ist mit einer
unendlichen Sandwüste vergleichbar. Aus Südost treibt feiner Sand aus den Dünen
aufs Meer hinaus. Der Wind weht ihn knöchelhoch über die Wattrippel. Vor Hindernissen
wie Muscheln, Blasentang und angetriebenen Holzbalken türmen sich graue Verwehungen,
als würden buddhistische Mönche unentwegt winzige Sandmandalas von spiritueller
Schönheit erschaffen. Ein angeschwemmter Damenschuh ist zu einer Henry Moore Skulptur
geworden, eine zerfetzte Stoffplane zu einem Himalaja in Miniatur. Swensen stapft
staunend in Richtung Westerhever Leuchtturm, der in der flimmernden Luft wie eine
Fata Morgana über der Wasseroberfläche schwebt.
Hier ist
man in kürzester Zeit kein Kriminalist mehr, hier wird unser Mordfall zu einem Sandkorn
im Weltengetriebe der Menschen, denkt Swensen. Generation um Generation ist es noch
immer nicht gelungen, sich friedlich zu begegnen.
In der Ferne
fällt ihm eine Gestalt auf, die sich mehr als ungewöhnlich bewegt. Mal schrumpft
die Silhouette abrupt zu einem runden Punkt zusammen, dann läuft sie nach links,
um im nächsten Augenblick die Richtung zu wechseln und an einem anderen Ort zu verharren.
Dann steht sie eine längere Zeit wie erstarrt, wird erneut zum Punkt, richtet sich
wieder auf und dasselbe Spiel beginnt von vorn. Je näher er kommt, gewinnt sie an
Volumen, hat eine rundliche, eher gedrungene Figur und hält einen Gegenstand in
den Händen. Schon wenig später ist Swensen klar, dass die Art, sich zu bewegen,
ihn an Peter Hollmann erinnert, wenn er an einem Tatort die Spuren sichert. Er erinnert
sich an den BMW auf dem Parkplatz und ist sicher, seinen Kollegen vor sich zu haben.
»Peter!
Peter Hollmann«, brüllt er aus Leibeskräften in den Wind, und seine Worte scheinen
mühelos beim Kollegen anzukommen. Die Gestalt in der grünen Windjacke ist keine
20 Meter entfernt. Sie bleibt stehen, dreht sich um, winkt und marschiert auf Swensen
zu.
»Jan!«,
ruft er ihm entgegen, »was machst du denn hier?«
»Feierabend!
Ich geh spazieren, um etwas runterzukommen. Und du?«
»Ich eigentlich
auch, aber das Fotografieren steht dabei natürlich im Vordergrund. Solche verrückten
Sandverwehungen bekommt man nicht alle Tage vor die Linse«, antwortet er mit begeisterter
Stimme, öffnet die Jacke und zeigt seine Kamera. »Ich muss nur ein wenig aufpassen,
dass der Wind sie nicht voller Sand bläst.«
»Dann ist
unsere Idee mit dem Buch keine Eintagsfliege?«, fragt Swensen.
»Nein, natürlich
nicht!«, sagt Hollmann entrüstet. »Ich hoffe, dein Angebot steht, die Texte für
die Fotos beizusteuern.«
»Was ich
versprochen habe, halte ich!«
Die beiden
Männer gehen ein Stück zusammen über die Sandbank, die bei Ebbe jedesmal aus dem
Wasser auftaucht. Sie kommen aber kaum voran, immer wieder stoppt der Spurensicherer,
zückt die Kamera und kniet sich in den silbergrauen Schlick. Swensen schaut ihm
über die Schulter. Eine halbgeöffnete, von Sandkörnern bedeckte Scheidenmuschel
hat Hollmanns Aufmerksamkeit erregt, und er sucht nach dem perfekten Ausschnitt.
Die Zeit steht still und verfliegt gleichzeitig. Ehe Swensen sich versieht, kratzt
die Sonne bereits an der
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