Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)
andere vom Melken und füllten Schalen mit gegorener Stutenmilch, und zwischendrin spielten die Kinder Fußball um einen Ofen, aus dem abwechselnd asthmatisches Röcheln oder seltsame knallende Geräusche drangen. Siebeneisen kam sich vor, als sitze er im Kultursaal in Oer-Erkenschwick, und auf der Bühne werde Ionesco gegeben oder sonst ein absurdes Spektakel. Er sah zu Lawn hinüber. Seine Freundin schien sich bereits eine gehörige Portion buddhistische Gelassenheit angeeignet zu haben. Sie lag auf einem großen Kissen in der Nähe des Ofens und blätterte in den Alben mit den Fotos der emigrierten Familienmitglieder. Offenbar waren sämtliche Kinder und Enkel nach Hawaii ausgewandert, auf fast allen Aufnahmen waren Blumenkränze, Surfer oder Musiker mit Ukulelen zu sehen. Damit war dann auch das Rätsel der beiden batteriebetriebenen Plastik-Hula-Puppen gelöst, die in einem kleinen Regal zur Melodie von »Wiegende Wellen auf wogender See« die Hüften schwangen. Siebeneisen vermutete, dass sie zur Begrüßung der Gäste eingeschaltet worden waren.
Er beschloss, sich ebenfalls auf eines der großen Kissen zu legen. Von dort beobachtete er die Großmutter, die ihren Lieblingskanal im Fernsehen suchte. Das Gerät war mit Stricken am Holzgestänge unterhalb des Stoffdaches befestigt, ein Kabel führte durch ein Loch im Dach ins Freie, wo die Solaranlage der »Bed and Breakfast«-Jurte einen von jährlich 257 Sonnentagen nutzte. Die Alte trug die traditionelle Kleidung der mongolischen Nomaden, eine wärmende Gemengelage aus Gamaschen, Kleidern, Schürzen und Jacken, dazu jede Menge Ketten, Goldzähne und einen langen, grauen Zopf. Sie sah aus wie 98, war aber wahrscheinlich nicht älter als Anfang siebzig, schätzte Siebeneisen. Fasziniert sah er zu, wie die Frau durch die Kanäle zappte und manche der kurz auftauchenden Programme mit Geräuschen tiefer Verachtung kommentierte, wobei sie bei Bollywood-Produktionen besonders laut zu schnauben schien. Und einmal, als Johannes B. Kerner kurz zu sehen war.
Nie zuvor war Siebeneisen an einem Ort gewesen, an dem Vergangenheit und Gegenwart derart selbstverständlich nebeneinander existierten wie in dieser Jurte in der mongolischen Steppe. Er war sich sicher, dass die Behausung selbst noch aussah wie die Jurten in den Tagen von Dschinghis Khan, da würde sich nicht viel verändert haben: Felle am Boden, Kissen, Stoffwände um ein Holzgestell gespannt plus ein Ofen, und wenn es einem nicht mehr gefiel oder das Vieh draußen nicht mehr genug zu fressen fand, konnte man das faltbare Mehrgenerationenhaus wahrscheinlich in einer halbe Stunde abbauen und dem Hauskamel auf den Rücken schnallen. Bloß die Satellitenschüssel vor der Tür hätte den großen Khan verwundert, und auch mit den Solarpaneels hätte er wenig anfangen können. Und natürlich nichts mit dem Flachbildschirm, auf dem die Großmutter nun offensichtlich den richtigen Sender entdeckt hatte: Sie gab einen Laut der Zufriedenheit von sich und ließ sich auf eine mit Teppichen bezogene Pritsche fallen. Dann drückte sie so lange auf den Lautstärkeknopf an der Fernbedienung, bis jeder Wolf im Umkreis von siebzehn Kilometern seine Gedankenspiele aufgab, möglicherweise genau diese Jurte nach Einbruch der Dunkelheit anzutesten.
Für das westliche Ohr ist Mongolisch eine etwas ungewöhnlich klingende Sprache. Es hört sich an, als hätten sich die Laute auf ihrem Weg zu den Lippen entschlossen, irgendwo im Rachenraum ein kleines Päuschen einzulegen, bevor ihnen plötzlich bewusst wird, dass sie ganz schnell weitermüssen – in der Eile überschlagen sie sich dann mehrmals und zischen und krächzen nach draußen. Noch merkwürdiger klingt die Sprache der Steppe allerdings, wenn sie aus dem Mund eines Vampirs kommt, der in einem Pub in Louisiana gerade eine Flasche künstliches Blut bestellt. Siebeneisen starrte auf den Bildschirm: Da lief tatsächlich die gleiche Serie, die er in der Villa La Reina gesehen hatte. Wie klein die Welt doch war! In dieser Folge schien sich eine Affäre zwischen dem blassen Gast und einer Bedienung anzubahnen. Als dem Mann plötzlich Fangzähne wuchsen, kommentierte die Großmutter das mit einem verächtlichen Laut. Siebeneisen lächelte und lehnte sich in seinem Kissen zurück. Kurze Zeit später träumte er von New Orleans, Hawaiihemden und einem Igel, der nicht in einem Motorraum gesperrt werden wollte.
Am nächsten Morgen rumpelten sie weiter, ohne Pause, stundenlang, immer
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