Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)
erdrücken, vor seinen Augen, dachte er. Er war um die halbe, ach was: um die ganze Welt gereist, um diesen Mann zu treffen – und musste nun hilflos zusehen, wie eben dieser Mann in Lebensgefahr geriet. Elvis zog das Tempo nun wieder an und sang »That’s alright, Mama«, obwohl um ihn herum überhaupt nichts mehr alright war. Ein Hagel leerer, halb voller und voller Bierplastikbecher flog von allen Seiten auf die Bühne, wo das Sicherheitspersonal in aussichtslose Handgemenge mit den Fans verstrickt war. Dann gelang es einem Besucher, von hinten auf die Bühne zu klettern und dem Schlagzeuger die Stöcke aus den Händen zu reißen. »That’s alright, Mama« bröckelte augenblicklich in sich zusammen. Eine schrille Rückkopplung übertönte die Geräuschkulisse rund um die Bühne, als der Gitarrist sein Instrument an den Verstärker lehnte, um schneller fliehen zu können. Es waren nun mehr Fans auf der Bühne als Musiker und Sicherheitsleute. Und noch einmal zweiundachtzigmal so viele waren dabei, ebenfalls hinaufzuklettern. Siebeneisen kam ein Moment in einem Zelt im australischen Outback in den Sinn. Das hier konnte nicht gut gehen, dachte er, er musste sofort etwas unternehmen.
Und dann entdeckte Connor O’Shady Siebeneisen. Beziehungsweise: Er entdeckte den einzigen Nicht-Chinesen im Publikum. Und den einzigen Menschen, der nicht hysterisch brüllte, mit Bierbechern um sich warf oder versuchte, über Absperrgitter und den Ring der Sicherheitsleute zu ihm zu gelangen. Elvis stand völlig unbeweglich inmitten des Chaos, ein weißer Riese in einem Pulk Wahnsinniger, als sein Blick auf Siebeneisen fiel. Und was machte Connor O’Shady? Er schüttelte seine Anhänger ab, stieß Sicherheitspersonal, Fans und Absperrgitter zur Seite und schob und drängte und wühlte sich aus der Masse heraus. Und dann rannte er auf Siebeneisen zu. Er rannte genau auf Siebeneisen zu.
»Schnell! Hier entlang!« Siebeneisen reagierte sofort. Weil sämtliche anderen Besucher in der Halle zur Bühne gedrängt waren, war der Weg nach draußen frei, von den umgestoßenen Tischen und den durcheinanderliegenden Plastikstühlen einmal abgesehen. Er stolperte Richtung Ausgang, O’Shady hinter ihm, und hinter O’Shady die größten Elvis-Presley-Fans, die das Reich der Mitte aufzubieten hatte. Etliche Hundert von ihnen. Denen ihr Idol auf seiner Flucht alles in den Weg warf, was sich an Stühlen, Bänken und Tischen greifen ließ. Sie rannten ins Freie, wo Siebeneisen einmal mehr mit den Nachteilen im Leben eines Brillenträgers konfrontiert wurde. Er riss sich das Gestell von der Nase und blickte in die verschwommene Kirmeswelt des Oktoberfestes.
»Laufen Sie vor! Ich bleibe hinter Ihnen!«
O’Shady rannte an Siebeneisen vorbei. Oder besser: Er schnaufte an ihm vorbei – Elvis anno ’81 war niemand, der es über eine Treppe hinauf in den zweiten Stock geschafft hätte, ohne dass man Angst um sein Leben hätte haben müssen. Siebeneisen gelang es problemlos, dem Iren zu folgen, der in seinem weißen Overall wie ein übergewichtiger Schneemann vor ihm herstapfte. Als er nach hinten sah, kamen die ersten Verfolger gerade aus der Halle des Bieres.
»Sie kommen!« Siebeneisen sah sich um. Rechts von ihnen befand sich der Eingang zu einer Ausstellungshalle, die ihm irgendwie bekannt vorkam, aber darüber konnte er jetzt nicht nachdenken. Er packte Elvis an seinem weißen Anzug, riss die Tür auf und schubste O’Shady hinein.
»Welcome back!« , sagte die Frau an der Kasse und hielt ihnen zwei feuerrote Wintermäntelchen hin, und Siebeneisen wusste, warum ihm die Tür bekannt vorgekommen war. Egal! Es blieb keine Zeit, ein anderes Versteck zu suchen.
»Ziehen Sie das an!«, sagte er zu Elvis, der schnaufend und prustend neben ihm stand und verwirrt auf das Mäntelchen schaute, das er in die Hand gedrückt bekommen hatte. Siebeneisen war schon an der Tür zur Haupthalle.
»Schnell!« Er zog den immer noch irritierten Elvis am Arm und gab der hocherfreuten Ticketverkäuferin ein kompliziertes Handzeichen, das diese hoffentlich als ein »Schließen Sie hinter uns bitte wieder so sorgfältig wie heute Morgen ab, als ich in Ihrem verfluchten Eispalast beinahe erfroren wäre!« verstand. Die Ticketverkäuferin strahlte und winkte ihm nach. Und Siebeneisen zog Elvis auf die Brücke über den gefrorenen Seerosenteich und hinein in das Reich des Eises.
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Der Brauch, komplette Städte oder sogar Landschaften aus Eis zu bauen, stammt
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