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Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)

Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)

Titel: Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Nink
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vermutlich aus der Mandschurei im Norden Chinas. Lange Zeit konnte man die Skulpturen der Eisschnitzer nur dort bewundern, mittlerweile aber gehen einige Künstler mit ihren Kreationen auch auf Tournee. Bei ihren Eislandschaften legen sie sehr viel Wert auf Authentizität und Maßstabstreue. Paläste werden nach Feng-Shui-Prinzipien errichtet, Brücken bekommen die korrekte Statik, und wenn bekannt ist, dass ein bestimmter Tempel in der richtigen Welt von 125 Säulen getragen wird, dann wird sein eisiger Nachbau ebenfalls 125 Säulen haben und keine weniger. Künstlerische Freiheit genießen chinesische Eisskulpturenkünstler lediglich im Zusammenstellen ihrer Landschaften und Szenen, bei denen es weder auf historische Korrektheit noch auf geografische Logik ankommt: Gut möglich, dass da der Kaiser vor dem Eiffelturm thront und das Empire State Building in einer Wüstenoase steht. Der Loreleyfelsen direkt neben der chinesischen Mauer ist auch kein Problem.
    Siebeneisen und Connor saßen mit dem Rücken an einem mittelalterlichen Festungsturm und schauten auf scharfkantige Eisberge, zwischen denen ein großes Segelschiff zu sehen war, die »Endurance«. Das Schiff lag offenbar vor einem Alpendorf vor Anker, jedenfalls standen etliche Eis-Murmeltiere am Ufer Spalier. Hinter ihnen konnte man eine kleine Kapelle und mehrere sehr schön gestaltete Alpenbauernhöfe sehen, komplett mit Balkonen, Blumenkästen und Brennholzstapeln aus Eis. Die Szenerie wurde von der Cheopspyramide überschattet, deren Spitze fast bis hinauf an die Hallendecke reichte.
    »Wielngmüssnwrdennnchhierdrnnbleibn? Mirisseisklt!« Connor O’Shady zitterte heftig. Siebeneisen hatte ihm von seinem Erbe unterrichtet, aber der Ire schien von den Vorfällen in der Halle des Bieres und ihrer Flucht in die Eishalle derart traumatisiert zu sein, dass er die Tragweite dieser Mitteilung wohl nicht wirklich realisiert hatte. Er hatte in den letzten Minuten kaum gesprochen. Siebeneisen war darüber ganz froh: Er verstand den Iren nämlich nur sehr schlecht. Offensichtlich hatte sich der Elvis-Imitator aus Heimweh verzweifelt an den Dialekt seiner Heimatinsel geklammert und diesen in den Jahren in der Fremde noch verschärft. Das Ergebnis war eine Aussprache, bei der sämtliche Worte zu Satzungetümen verschweißt schienen. Dass er nun so zitterte und die Lippen kaum auseinanderbrachte, machte die Sache nicht besser. Siebeneisen musste jeden Satz dechiffrieren.
    »Ein paar Minuten noch. Wir sollten sicher sein, dass sie nicht draußen am Eingang auf uns warten.«
    »’chrchmlneziggrre. Acchne?« O’Shady fingerte ein Etui aus seinem Elviskostüm und bot Siebeneisen eine Zigarre an.
    »Oh nein, danke! Davon wird mir schlecht. Warten Sie, ich zünde sie Ihnen an.« Er nahm O’Shady das Feuerzeug aus dessen Fingern und hielt ihm die Flamme unter die Zigarre. O’Shady inhalierte tief und musste husten, aber offensichtlich wärmte ihn der Rauch, das Zittern jedenfalls ließ ein klein wenig nach.
    Siebeneisen spürte, wie sich die Aufregung legte und er ruhiger wurde. Außerdem realisierte er allmählich, dass seine Mission kurz vor ihrem Ende stand: Er hatte den letzten von Schattens sieben Miterben gefunden und ihn informiert. Was jetzt noch blieb, musste von Oer-Erkenschwick aus in die Wege geleitet werden: ein Termin beim Notar in Dublin, Flüge und Hotelzimmer für alle und dann die Auszahlung der Millionen beziehungsweise ihre Überweisung auf Konten in Australien, Nepal und wo sonst noch. Er versuchte sich Schatten als Multimillionär vorzustellen, 50 Millionen Euro schwer. Es gelang ihm nicht. Es gelang ihm genauso wenig, wie es dem Mann neben ihm für sich vor ein paar Minuten gelungen war. O’Shady hatte seine Zigarre fast bis zu Ende geraucht. Das Zittern war beinahe vollständig verschwunden.
    »Ich glaube, wir können es jetzt wagen«, sagte Siebeneisen, »die sind mittlerweile bestimmt alle wieder zurück in der Halle und trinken. Kommen Sie, gehen wir!«
    O’Shady nickte. Er zog noch ein letztes Mal an seiner Zigarre, dann warf er den glühenden Stumpen hinter sich. Der Stumpen beschrieb einen eleganten, ellipsenförmigen Bogen und flog genau durch die unterste Schießscharte des Festungsturmes hinter ihnen. Jenen Turm, den die Organisatoren des größten Feuerwerkes in der Geschichte Qingdaos als sicheren Ort für die Aufbewahrung ihrer Raketen und Knallkörper ausgesucht hatten.

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    (Zum Fetten Hecht, Oer-Erkenschwick, samstags –

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