Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)

Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)

Titel: Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Nink
Vom Netzwerk:
zeitgleich allerdings gab der Engel einen entsetzlichen Krächzlaut von sich und bewegte sich, und plötzlich war es wieder helllichter Tag, und Siebeneisen sah einen riesigen Geier neben sich sitzen.
    Er schrie auf. Den Vogel animierte das offensichtlich, jedenfalls krächzte er jetzt ohrenbetäubend, wobei er mit seinem überaus hässlichen, kahlen Hals hin und her ruckte. Er verlagerte das Gleichgewicht von einem Bein aufs andere, spreizte die Flügel und wurde dadurch etwa vier Meter breit. Siebeneisen befiel Panik. Er wusste nicht, wie lange er schon im Hang unter seinem Aussichtspunkt lag – offenbar aber lange genug, um ihn für diesen monströsen Aasfresser tot aussehen zu lassen. War er drei Minuten bewusstlos gewesen? Eine halbe Stunde? Länger? Und wenn er so lange hier lag, dann waren die anderen mittlerweile hoffnungslos weit entfernt! Dieser Gedankengang brachte ihn sehr schnell zu der Frage, wie man mit einem fünfzehn Kilo schweren und offensichtlich sehr hungrigen Lämmergeier umgehen musste, der einen aus einem Meter Entfernung beäugte. Der Geier legte den Kopf ein wenig schief. Er bewegte seinen langen Hals so, dass sich sein Schnabel wie am Ende einer Teleskopstange Siebeneisens Gesicht näherte. Oh Gott, dachte er. Das Teleskop fuhr ein wenig zurück. Der Geier senkte den Kopf und wetzte seinen Schnabel an einem Geröllbrocken.
    Dann hüpfte er Siebeneisen auf den Bauch.
    Später, viel später, als alles vorüber war und die Erinnerung das meiste durch den Weichspülergang der Verklärung geschickt hatte, da wunderte sich Siebeneisen manchmal, warum der Schuss nicht zu hören gewesen war. Dabei war die Antwort klar. Er hatte in jenem Moment einfach zu laut geschrien. In jenem besagten Moment schaute ihm der Geier in die Augen, und Siebeneisen wusste, dass es das war: Aus. Ende. Vorbei. Einen Moment später bestand die Welt dann aus 17 geplatzten Daunenkissen. Wiederum einen Moment später kippte das, was vom Geier übrig geblieben war, in Zeitlupe von Siebeneisens Bauch nach vorne auf Siebeneisens Gesicht, und es wurde wieder dunkel. Und dann bebte die Erde, und dann wieherte ein Pferd, und dann nahm jemand den toten Geier von ihm herunter.
    »Hm …«, sagte das Gesicht über Siebeneisens Gesicht.
    »Tashi delek!« , antwortete Siebeneisen und blinzelte in die plötzliche Helligkeit. Er hatte nicht viele tibetische Vokabeln gelernt in den letzten Tagen, aber »Guten Tag!« gehörte definitiv dazu.
    »Hmhm …«, sagte das Gesicht. Wie alle anderen Gesichter in diesem Teil der Welt verschanzte es sich hinter einer dicken Gemengelage aus Staub und Lagerfeuerruß. Es war ein ziemlich gestrenges Gesicht, mit dunklen, schmalen Augen und einem Bart, wie er mal eine Zeitlang unter schwulen Harley-Fahrern populär war. Obendrauf auf dem Gesicht saß eine Pelzmütze. Unter ihm baumelte eine Kette, an der mehrere dunkle Krallen hingen. Und etwas, das wie ein ausgebleichter Mäuseschädel aussah.
    »Thugs rje che!«, sagte Siebeneisen. »Danke« war noch so ein tibetisches Wort, das er beherrschte.
    »Hmhmhm …«, sagte das Gesicht. Dann verschwand es, und Siebeneisen blickte in den blauen Himmel des Himalajas. Er hörte Geräusche, Klappern, Kramen, das Klacken von Steinen, die aufeinandergeschlagen wurden. Irgendwann zog feiner Rauch durch sein Blickfeld. Weiter weg schnaubte das Pferd. Nach einer Weile tauchte das Gesicht wieder über ihm auf. Dunkle Hände hielten eine Schale mit einer trüben, dampfenden Flüssigkeit, die einen schlimmen Geruch verströmte. Siebeneisen ahnte, was ihm da in die Nase stieg, Jigmes Männer tranken dieses fürchterliche Zeug jeden Abend. Tee mit ranziger Yakbutter gilt den Völkern des asiatischen Hochgebirges als traditioneller Willkommenstrunk – für den westlichen Reisenden allerdings, da war sich Siebeneisen sicher, existiert auf Gottes weiter Welt kein zweites Getränk, das ihn bereits durch seinen Geruch stärker zusammenfahren lässt. Beziehungsweise, in diesem Fall: schneller auf die Beine bringt. Für einen Mann, der gerade eben noch halb zerschmettert am Boden lag (oder sich zumindest halb zerschmettert fühlte), erhob sich Siebeneisen ziemlich flink aus dem Staub.
    »Hmhmhmhm …«, sagte der Mann zu dem Gesicht. Er sah aus, als sei er soeben vom Set einer Kurier-des-Zaren -Verfilmung gekommen: Stiefel, Gamaschen, darüber eine Art Gehrock, darüber eine Jacke mit Pelzkragen. In einer gewaltigen Lederscheide an seiner Seite steckte ein offensichtlich

Weitere Kostenlose Bücher