Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)
Sonne stand schon tief, die Stadt warf ihre Scherenschnittschatten in ein Land, das von innen heraus zu glühen schien, und zum ersten Mal auf seiner Reise durch Mustang empfand Siebeneisen so etwas wie ein Gefühl von Schönheit, nein: Erhabenheit. Tenzing nickte ihm zu. Dann verdunkelte sich sein Gesicht für einen kurzen Moment, und dann ging alles sehr schnell: Der Polizist schaffte es in 2,4 Sekunden aus dem Schneidersitz in die Vertikale, und während Siebeneisen erstaunt dem riesigen Geier hinterhersah, der in die Ebene hinausflog, hatte Tenzing bereits sein Gewehr zwischen Kinn und Schulter geklemmt und zu murmeln begonnen. Der Geier entfernte sich schnell und war jetzt nur noch ein kleiner Punkt, aber Tenzing murmelte weiter, und als er fertig war, atmete er tief durch. Der Schuss war nicht mehr als ein feines Klacken, Siebeneisen hätte ihn fast überhört. Er sah auch nicht, ob Tenzing erfolgreich war, weil er den Vogel schon Sekunden zuvor aus den Augen verloren hatte. Der Schamane drehte sich um und rief etwas von der Mauer hinunter, wo ein kleiner Junge begeistert lachte, sich auf ein Pferd schwang und durch das Stadttor in die Ebene hinausgaloppierte.
»Glauben Sie, dass Sie ihn getroffen haben?« Siebeneisen sorgte sich ein wenig um den Jungen, der ihm nicht älter als fünf oder sechs zu sein schien und gerade zu einem Geier hinausritt, der etwa so groß war wie ein Nazgul aus Der Herr der Ringe.
»Zwischen dem dritten und vierten Halswirbel. Der hat nicht einmal mehr den Aufprall mitbekommen.«
»Was? Ich hab das Vieh noch nicht einmal mehr sehen können, und Sie wissen, zwischen welchen Halswirbeln Sie ihn erwischt haben?«
Siebeneisen war sprachlos. Sein Blick fiel auf das Gewehr des Polizisten. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Wipperfürth zu Hause in Oer-Erkenschwick seine Vietnam-Phase durchlebt, während der er seine Freunde monatelang mit den unmöglichsten Kriegsführungs- und Strategiedetails traktierte. Siebeneisen musste sich damals viermal Deer Hunter ansehen und dreimal Apocalypse Now ; seitdem konnte er eine Douglas A-4 Skyhawk von einer Grumman A-6 unterscheiden und eine Ithaca 37 von einer …
»Ist das eine M16?«
Tenzing nickte.
»Wie kommen Sie denn an die?«
Tenzing sah hinaus in die Ebene. Dann drehte er sich zu Siebeneisen um.
»Setzen Sie sich zu mir.«
Eine Stunde und leider auch drei Buttertee später wusste Siebeneisen, dass Tenzing in einer anderen Zeit zur Leibwache des Dalai Lamas gehört hatte. Dass er mit dem Oberhaupt der Tibeter nach Indien geflohen war, als die Chinesen seinen Palast in Lhasa beschossen hatten – und anschließend nicht mehr in die Heimat zurückgekonnt und -gewollt hatte. Also war er nach Mustang gegangen, in das Land, das von allen Himalaja-Regionen am meisten nach Tibet aussah, ohne Tibet zu sein. Was vor allem daran lag, wie Tenzing erzählte, dass es geografisch wie ein Daumen in das annektierte Land hineinragte und lediglich durch die Kapriolen der Geschichte keine Region innerhalb Tibets war. Was wiederum das Interesse der USA geweckt hatte, die in dem kleinen Königreich eine Möglichkeit gesehen hatten, die Chinesen zu ärgern. Also waren Tenzing und seine Leibgarde-Kameraden von der CIA kontaktiert worden. Man hatte sie für ein halbes Jahr in ein Camp der US -Marines nach Colorado geflogen, zu Scharfschützen ausgebildet und anschließend mit dem Fallschirm über Mustang abspringen lassen, wo sie fortan die chinesischen Grenzposten ins Visier nahmen. Daher dieser Akzent, der nach Denver klang. Daher die Gewissheit, einen 500 Meter entfernten Geier zwischen dem dritten und vierten Halswirbel erwischt zu haben. Daher der Verdacht, dass man Siebeneisens Expedition einen Umweltoffizier mitgegeben hatte, um in den Bergen nach noch lebenden Widerstandskämpfern zu suchen.
»Rashid? Der würde doch die Stadt nicht mehr finden, wenn wir ihn 200 Meter vor dem Tor in die Ebene setzen würden!« Siebeneisen dachte an die Zipfelmütze mit Wikingerschiffmuster. Und die Marienkäfer auf der Kindergartentrinkflasche. «Unterschätzen Sie den Mann nicht«, meinte Tenzing, »seit seiner Ankunft hat er nichts anderes gemacht, als Fragen zu stellen. Und alle Fragen waren Fragen über mich.«
Siebeneisen dachte nach. Konnte das wirklich stimmen? Rashid? Am Abend zuvor war der Umweltoffizier mit einer zerlesenen Illustrierten zu ihrem Lagerfeuer gekommen und hatte ihnen ein Foto gezeigt: »You know that man?« Siebeneisen und Jigme hatten sich
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