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Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)

Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)

Titel: Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Nink
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grundsätzlich über die Berge zu führen statt um sie herum. Kaum war morgens um sieben der erste Pass bewältigt, ging es von knapp 4 000 Meter Höhe steil zurück auf 3 100 und sofort wieder hinauf auf 3 800. Anschließend hinunter auf 3 200. Und zum Abendessen noch mal schnell rauf auf 3 700 – Siebeneisen kontrollierte ihr Hoch und Runter bei jeder Marschpause auf der Landkarte, die hinten im Reiseführer steckte. Verlaufen konnte man sich bei alldem Auf und Ab auch nicht: Es schien tatsächlich nur diesen einen Trampelpfad zu geben, den Hufe und Sohlen in jahrhundertelanger Fleißarbeit ausgetreten hatten.
    Siebeneisen schaute den Hügel hinauf, hinter dem der Rest der Mannschaft bereits vor geraumer Zeit verschwunden war. Er war allein, so allein, wie man sein konnte in diesen Bergen. In den vergangenen Tagen hatte er diese Momente der Ruhe und Einsamkeit schätzen gelernt: ohne das Geschwätz der Träger, ohne das allgegenwärtige Gerotze, ohne Rashids quengelndes Radio. Aber das würde jetzt ja ohnehin fürs Erste vorbei sein: Heute Abend sollten sie die Hauptstadt erreichen.
    Siebeneisen fühlte sich wunderbar beschwingt, als er daran dachte. Vergessen waren der körperweite Muskelkater, vergessen das Gedröhne im Kopf, stattdessen schwirrte eine kleine Melodie munter in seiner Seele, und weil gerade alles so fabelhaft war, beschloss er, auf einer Felsnase ein paar Meter weg vom Pfad ein Päuschen einzulegen. Er balancierte über ein Stück Geröllgebröckel, machte einen großen Ausfallschritt und zog sich vorsichtig auf den kleinen Felsvorsprung. Da lag sie, die Hauptstadt! Weit weg noch, am Horizont, am Rande einer Ebene, durch die eine langgezogene Reihe kleiner schwarzer Punkte zog, und mit gehörigem Abstand dann noch ein letzter Punkt, dessen Radio bis hierhinauf zu hören war. Siebeneisen verspürte den warmen Rausch des Triumphs, und weil ihn ja niemand sehen konnte auf seiner Felsnase, breitete er in »Ich bin der König der Welt!«-Manier die Arme aus. Das Knacken des Steins unter seinem rechten Fuß war auch im aufheulenden Wind gut zu hören.
    Wer je die fabelhaften National-Geographic -Reportagen gelesen hat, die der Schweizer Geologe Toni Hagen in den Sechzigerjahren über seine Expeditionen in diesen unzugänglichen Teil des Himalajas geschrieben hat, der weiß: Das kleine Königreich Mustang ist eine geologisch hochinteressante Destination. Als sich vor 40 oder 50 Millionen Jahren die Berge des Himalajas nach oben knufften und drückten, wurde das Land nördlich der gewaltigen Gipfel allmählich in den Schatten gestellt – jede noch so kümmerliche Regenwolke, die seitdem aus den heißen Ebenen Indiens nach Norden ziehen möchte, wird hier abgefangen. Zwei Tagesmärsche weiter südlich gibt es meterhohen Schnee auf den Gipfeln und Apfelbaumplantagen in den Tälern. In Mustang dagegen gibt es – nun ja: nichts. Mustang ist eine Welt aus Geröll, das sich hier und dort zu himmelsstürmenden Bergen auftürmt, meistens aber gelangweilt in der Gegend herumliegt. Als habe die Schöpfung bei seiner Erschaffung bereits nach zwei Arbeitsminuten eine Kaffeepause eingelegt und sei anschließend nicht mehr zurückgekommen, so sieht Mustang aus. Wie das Death Valley nach einer nuklearen Katastrophe. Oder die Rückseite des Mondes. Nur wenn am Nachmittag der Nordwind über die Geröllwüsten bläst, kommt ein wenig Bewegung in die Sache: Wirbelnde Sandhosen sind die einzige optische Abwechslung in der alttestamentarischen Ödnis Mustangs. Es sei denn, ein Wanderer löst irgendwo in den Bergen mit einem falschen Tritt einen Erdrutsch aus und rattert mit vierhundert Kubikmetern Geröll in die Tiefe. So eine Staubfahne ist dann natürlich meilenweit zu sehen.
    Siebeneisen lag auf dem Rücken und versuchte, Befehle aus seinem Kopf an die einzelnen Körperteile zu senden. Mit den Füßen: konnte er wippen. Die Beine: waren beweglich. Die Arme: auch. Bloß der Kopf ließ sich nicht anheben, irgendetwas schien ihn auf den Boden zu drücken. Es war stockfinster. Siebeneisen hatte das Gefühl, dass ihm hin und wieder etwas übers Gesicht strich, ganz sachte, ganz sanft. Er befreite seine rechte Hand aus dem Geröll um ihn herum und bewegte sie vorsichtig Richtung Kopf. Beinahe augenblicklich stieß er gegen etwas Warmes und sehr Weiches. Federn, dachte Siebeneisen, Federn, und plötzlich wusste er, dass er nicht mehr auf dieser Welt weilte und er soeben die Flügel eines Engels berührt hatte. Beinahe

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