Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)
Couch am anderen Ende des Wohnzimmers und setzte eine dieser Schlafbrillen auf, die er in den vergangenen Wochen in diversen Flugzeugen bekommen hatte (außerdem besaß er nun: vier zusammensteckbare Minizahnbürsten, eine beachtliche Sammlung unterschiedlicher Tubensocken sowie acht Paar Ohrstöpsel). Für einen Moment glaubte er noch, einen Chor schriller australischer Frauenstimmen zu hören. Dann war er eingeschlafen.
Der nächste Morgen begann mit einem wolkenfrei geschrubbten Himmel in Azur und einer wild um sich blendenden Helligkeit, die bereits morgens um halb fünf jeden noch so versteckten Winkel aufstöberte und sich irgendwie auch unter Siebeneisens Schlafbrille schummelte. Er kletterte in einen der Survival-Daunenoveralls, die an der Garderobe hingen, zog Handschuhe und Schneestiefel an und schaffte es gefühlte acht Sekunden vor Eintreffen des Hitzschlags nach draußen.
Meadow kniete hinter der Station im Schnee. Sie hatte Samson aus der Garage geholt und war dabei, den Gaszug einzustellen. Bei jedem Ziehen heulte das Schneemobil auf wie ein kleiner Drachen. Meadow gähnte zufrieden.
»Gebt mir Schnee, gebt mir Samson – den Rest könnt ihr behalten!«, rief Siebeneisen ihr zu – ein altes Rasmussen-Zitat, das er zur Feier des Tages ein wenig abgewandelt hatte.
Meadow warf ihm einen somnambulen Blick zu. Sie war blasser als Tilda Swinton mit Tuberkulose.
»Ich hätte außerdem gerne drei Stunden Schlaf«, sagte sie. »Setzen Sie sich hinter mich. Und halten Sie sich gut fest!«
Zu Hause in Oer-Erkenschwick fuhr Siebeneisen einen alten Motorroller. Die graue Vespa stammte noch aus den Siebzigern und schaffte mit ihren 50cc knapp zwanzig Stundenkilometer Spitze – wenn Siebeneisen sich duckte und ihm kein Gegenwind ins Gesicht blies. Seine Kollegen beim Tagesboten schüttelten den Kopf, wenn er mit dem alten Zweirad auf den Redaktionsparkplatz knatterte, er aber mochte seinen Roller, und er mochte das gemächliche Dahintuckern mit ihm, und irgendwie hatte sich mit den Jahren die feste Gewissheit in ihm geformt, dass dieses Tempo, dass diese, nun ja: 18 Stundenkilometer – dass dies die übliche Geschwindigkeit war, mit der man mit solchen Fahrzeugen fuhr. Von alldem konnte Samson natürlich nichts wissen. Samson war mit einem 190 PS -Motor ausgerüstet, ab Werk, und begabte Techniker aus mehreren US -Antarktisteams hatten viele Stunden daran gearbeitet, die Leistung des Schneemobils weit über die vom Hersteller vorgesehene Marke von 130 Stundenkilometern Höchstgeschwindigkeit zu bugsieren. Als Meadow nun Gas gab und die Kupplung kommen ließ, glaubte Siebeneisen, auf einer startenden Cruise-Missile zu sitzen. Und wenn er seine Arme nicht einen Moment zuvor ganz schnell um Meadows Taille gelegt hätte (beziehungsweise um das, was nach dem Anziehen eines Survival-Overalls mit mehreren Zentimetern dicker Isolationsfüllung aus ihrer Taille geworden war): Wahrscheinlich wäre er siebzehn Meter hinter Samson im Schnee gelandet. Als er endlich halbwegs sicher im Sattel saß, waren sie bereits weit draußen auf dem Eis, und die Forschungsstation war hinter dem Horizont verschwunden.
In Filmen und Romanen wird einem ja gerne suggeriert, die komplette Antarktis sei eine große, spiegelglatte Fläche und läge wie ein grenzenloser Eissee unter der kalten Sonne. Das war natürlich Blödsinn, wusste Siebeneisen, der in den vergangenen Jahren etliche Südpol-Artikel in seinen National-Geographic- Heften verschlungen hatte. Selbstverständlich gibt es in einem Land, das 37-mal so groß wie Deutschland ist, hier und da auch weite, flache Ebenen. Im Großen und Ganzen aber sieht die Antarktis aus wie jeder andere Kontinent auch, bloß dass hier eben alles weiß ist: die Berge und Täler, die Schluchten, die Grate und Gipfel und die geschwungenen Hügellandschaften mit ihrem sanften Auf und Ab. Anders gesagt: Mit etwas Fantasie kann man sich die Antarktis als einen unberührten, von der Menschheit verschonten Garten Eden vorstellen. Man muss sich bloß schnell mal das Eis und den Schnee wegdenken.
Durch eine solche Landschaft flogen Meadow und Siebeneisen nun schon weit mehr als zweieinhalb Stunden: sie am Lenker, er im Windschatten ihres Rückens. Das Wetter war umgeschlagen, ziemlich plötzlich, der blaue Himmel hinter einer tief hängenden Wolkendecke verschwunden. Siebeneisen merkte, dass seine Augen unter der dunklen Schneesonnenbrille entspannten und er sie nicht länger pausenlos zusammenkneifen
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