Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)
entdeckte, deren Türen mit Löchern perforiert waren. Drinnen war es stockduster und ungefähr 30 Grad kälter als draußen. Siebeneisen benötigte mehrere Sekunden, um seine Augen an die Düsternis zu gewöhnen. Und um festzustellen, dass Fred’s Lounge um neun Uhr an einem Sonntagmorgen besser besucht war als die Kirchen in Oer-Erkenschwick. An den Tischen saßen zumeist ältere Paare und schauten erwartungsfroh hinüber zu der Band, fünf Senioren, die lautstark über das Programm ihres anstehenden Auftritts stritten. Auf den Hockern an der Theke hatten sich die jüngeren Gäste versammelt. Und hinter dem Tresen zog die Wirtin die Augenbrauen zusammen wie eine Schleiereule unmittelbar vor der Attacke auf die Feldmaus. Die Frau war etwa Mitte siebzig und spindeldürr. Nachdem sie ihren neuen Gast dehnend lange Sekunden in ihren Augen-Klauen gehalten hatte, bellte sie einen Befehl, der sich wie »Battorbörbenn!« anhörte.
Siebeneisen zuckte zusammen. »Kann ich bitte einen Tee bekommen?«, fragte er höflich. Dass er hier besser keine weiteren Kaffee-Experimente eingehen sollte, war ihm gerade noch rechtzeitig eingefallen.
»Tea? There ain’t no tea ’round here, love! Battorbörbenn!«
Siebeneisen verstand nicht wirklich, was die Frau von ihm wollte. Er ahnte aber, dass es sich bei diesem Battorbörbenn um das komplette Repertoire der Frühstücksmöglichkeiten handelte – eine Dose Budweiser oder ein Glas Bourbon. Innerlich seufzend entschied er sich für das Bier, das war mit Sicherheit so dünn wie der Kaffee und würde keinerlei Auswirkungen auf seine Fahrtüchtigkeit haben. Er setzte sich an die Bar, vor eine Lampe, in deren durchsichtigem Kunstharzfuß eine Wells-Fargo-Kutschen-Miniatur steckte. Der Hersteller hatte sich mit der kleinen Plastik ziemliche Mühe gegeben, man konnte sogar die panisch aufgerissenen Augen des Kutschers erkennen, der wahrscheinlich einen Moment zuvor entdeckt hatte, dass ihm 120 berittene Apachen auf den Fersen waren. Siebeneisen versank kurz in diesen in Kunstharz gegossenen Westernmoment, aber dann knallte die Bedienung seine Bierdose auf den Tresen, dass die kleinen Tröpfchen außen auf dem Aluminium wegspritzten wie in einer Werbung für Erfrischungsgetränke in der Karibik. Und dann, als ob die Welt um ihn herum bis jetzt eingefroren gewesen sei wie die Kutsche in ihrem Kunstharz und sich nun schlagartig verflüssigte, passierte alles auf einmal: »This Yankee he ain’t know nuttin’!« , krächzte die hagere Eule, was alle anderen offenbar besonders lustig fanden, jedenfalls dröhnte die Kneipe nun vor Gelächter, und kräftige Hände klatschten dem Yankee auf die Schulter, und prompt kamen zwei weitere Bierdosen hinzu. Und dann startete die hauseigene Band mit einer gewaltigen Rückkopplung ihr Morgenprogramm. Die Lampe mit der kleinen Wells-Fargo-Postkutsche begann wild zu vibrieren.
Cajun ist eine sehr spezielle Musik. Ihre Ursprünge liegen in Frankreich, in den Melodien und Rhythmen, die Auswanderer Mitte des 17. Jahrhundert mit an die Ostküste Kanadas gebracht hatten – Siebeneisen wusste das aus einem alten National-Geographic -Heft. Von dort war sie mit französischen Vertriebenen später in das damals spanische Hinterland von New Orleans gelangt, und als sie dort angekommen war, hatte die Cajunmusik hundertfünfzig Jahre Armut, Flucht und Leid auf dem Buckel sowie die niemals zu stillende Sehnsucht nach der Heimat hinter dem Atlantik. Deswegen hört sich selbst ein flott gespieltes Cajunlied immer noch an wie etwas, das einem Suizidgefährdeten durch den Kopf geht, wenn er schlecht gelaunt an einer Mississippibrücke vorbeifährt. Eine Ballade dagegen klingt wie die Klage der Großmütter eines bretonischen Fischerdorfes, die man soeben über den Untergang von 17 Öltankern zwei Seemeilen vor der Küste informiert hat.
Siebeneisen war sich sicher: Schon angesichts des Auftaktwalzers wäre der deutsche Tanzlehrer-Verband in Ehrfurcht erstarrt. Die Geige wimmerte herzzerreißend, das Akkordeon quengelte, und 26 ältere Herren, die Haare akkurat mit Wachs gescheitelt, die Stiefel poliert, die Karohemden gebügelt, ein Regiment wie herausgezoomt aus den Waltons also, diese 26 älteren Herren blickten 26 ebenso betagten Gattinnen vielsagend in die Augen, und einen Takt später tanzten sie, mit kleinen Schritten und ohne die Füße wirklich vom Boden zu heben, was sie aussehen ließ, als schwebten sie wie ein menschlicher Fischschwarm durch Fred’s
Weitere Kostenlose Bücher