Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)
Flehen, eine alles umfassende Litanei. Siebeneisen stand gebannt vor dem Alten im Campingstuhl, er hörte das Leid und die Mühsal eines ganzen Jahrhunderts, und wie es Trost fand in den Tönen der Saiten. Dann noch ein letzter Lauf, dann Stille. Der Alte hob den Kopf. Es sah aus, als lausche er seinem letzten Akkord hinterher, wie er davonschwebte über den Mississippi.
»Das war wunderbar. Sie spielen wahrscheinlich schon sehr lange, oder?« Siebeneisen erinnerte sich daran, wie schwer es ihm als Jugendlicher gefallen war, auch nur ein einziges Bluessolo hinzubekommen. Er hatte derart lange nach dem nächsten Ton gesucht, dass der Rest der Schülerband inzwischen einen Refrain weiter war.
»Lange?« Der Parkplatzwächter sprach das Wort aus, als wolle er es von allen Seiten begutachten. »Hm, ja, ich glaube, das kann man so sagen … Lange. Ziemlich lange.«
»Und wie viele Jahre haben Sie gebraucht, bis Sie das so perfekt konnten?«
Der Alte schwieg. Er sah jetzt noch einmal älter aus.
»Ging schnell, Bruder, ging schnell. Ich hab’s an einer Kreuzung gelernt, eines Abends. Oben in Mississippi. Ist lange her.«
»An einem einzigen Abend?« Siebeneisen konnte nicht glauben, was er eben gehört hatte.
»Yeah. Hatte einen guten Lehrer, wenn man so will. Hatte ’ne Menge Erfahrung, der Mann.«
Der Parkplatzwächter blickte Siebeneisen an. Dann lösten sich seine dürren Finger vom Hals der Gitarre, ganz langsam lösten sie sich, als sei ihnen in diesem Moment der Lauf der Welt und das Eilen der Zeit bewusst geworden. Die Hand des Alten bewegte sich vom Hals der Gitarre auf Siebeneisen zu, bis sie unmittelbar vor seiner Brust stoppte. Die Hand öffnete sich.
»60 Dollar. Im Voraus. 30 mehr, wenn Sie über Nacht parken wollen.«
Siebeneisen fand einen Hundert-Dollar-Schein in seiner Brieftasche.
»Behalten Sie den Rest. Und hören Sie nicht mit dem Spielen auf.«
Der alte Mann sah ihn an. »Werd ich nicht, Bruder, werd ich nicht.«
Siebeneisen legte sich seine Reisetasche über die Schulter, lief über den Parkplatz und überquerte die Straße. Als er sich umdrehte, um den Alten noch einmal zu grüßen, war er nicht mehr zu sehen. Auch der Campingstuhl war verschwunden.
Überflutete Straßen, winkende Menschen auf Dächern, umgeworfene Autos und Gebäude, von denen bloß noch ein paar kümmerliche Reste standen: Auf den Fernsehbildern, die es in letzter Zeit in Deutschland von New Orleans zu sehen gegeben hatte, sah die Stadt permanent aus wie eine zerstörte Siedlung irgendwo in einem Drittweltland. Vor etlichen Jahren war ein gewaltiger Hurrikan über Louisiana hinweggezogen, und offensichtlich hatten die TV -Sender in den Tagen nach der Katastrophe genügend Material gesammelt, um der Welt New Orleans bis ans Ende aller Tage als eine Art Südstaaten-Atlantis vorzuführen. Auch Siebeneisen hatte diese apokalyptischen Bilder im Kopf und war deswegen ziemlich erstaunt, als er nun durch eine Altstadt lief, die aussah, als sei sie aus einem Bilderbuch für Südstaatenarchitektur gefallen. Die alten Häuser strahlten in frischen Farben, auf den Balkonen drängelten sich Blumen, irgendwo lag die leise Melodie eines fernen Saxofons in der Luft. New Orleans’ French Quarter war, wie der Name schon sagte, das historische, von den französischen Stadtvätern gegründete Zentrum der Stadt. In der National-Geographic- Reportage über Cajun County hatte auch einiges über Frankreichs Expansionsgelüste in der damals Neuen Welt gestanden, deshalb wunderte sich Siebeneisen viel weniger über die französischen Straßennamen als die amerikanische Familie, die ihn nach den Franzosen fragte, nach denen das French Quarter benannt sei. Er verwies die Familie auf die Ecke hinter sich, »da stehen ganz viele«, und ging zügig weiter. Seit seinem Treffen auf dem Parkplatz war seine Laune vorzüglich. Er spürte, dass diese Stadt etwas ganz Besonderes für ihn bereithielt. Australien, der Himalaja, die Antarktis – das alles waren Überlebenskämpfe gewesen. New Orleans war anders. Er wusste es einfach.
Die Villa La Reina in der Ursuline Street wirkte nicht wie ein Hotel, sondern eher wie das Stadtdomizil einer reichen Plantagenbesitzerfamilie. Da würde er sich bei Lawn bedanken müssen, dachte Siebeneisen, die Frau hatte Geschmack. Er schätzte, dass kein Einrichtungsgegenstand weniger als 200 Jahre alt war, der Hauspapagei eingeschlossen. Das Tier hing kopfüber in einem gewaltigen Käfig im Innenhof und pfiff den
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