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Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)

Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)

Titel: Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Nink
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Sonntagnachmittagen getroffen und die Rhythmen ihrer afrikanischen Heimat getrommelt hatten. Auch klassisch ausgebildete Salonmusiker waren damals hier aufgetreten, und Bordellpianisten, und jeder hatte beim anderen zugehört und sich das eine oder andere abgeschaut. Auf diesen wenigen Quadratmetern, wusste Siebeneisen, war daraus jene Musik entstanden, die später Jazz genannt wurde. Er blieb stehen und versuchte, die Vergangenheit zu spüren, aber da war nichts, nichts außer Polizeisirenen irgendwo weit weg, dem unermüdlichen Zirpen der Zikaden in den Büschen und dem geflüsterten Need something? eines Drogendealers, der offensichtlich in diesen Büschen saß.
    »Hab schon alles!«, antwortete Siebeneisen ins Dunkel hinein und legte seinen Arm um Lawn.
    223 North Rampart Street war zu hören, lange bevor man das Haus sehen konnte. Aus den geöffneten Fenstern strömten Dixieland-Klassiker hinaus in den warmen Abend, Trompete, Klarinette, Kornett, Banjo und Schlagzeug, die Tuba brummte so laut, dass das komplette Gebäude im Takt zu vibrieren schien. Das Haus stand etwas zurückgesetzt zwischen mächtigen Magnolien in einem Garten und sah aus, wie sich deutsche Architektur- und Einrichtungsmagazine einen Landsitz im tiefen Süden der USA gerne vorstellen, inklusive Schaukelstuhl-Veranda, schlanker, hoher Fenster und einem Balkon, der von dorischen Säulen gestützt wurde. Ein Mädchen mit Mireille-Matthieu-Haarschnitt öffnete ihnen. Sie trug ein T-Shirt mit Save-a-Tree – eat-a-Beaver! -Aufdruck und nickte ihnen kurz zu, bevor sie wieder im Gewühl verschwand. Weil seine Gläser beschlugen, blieb Siebeneisen erst einmal am Eingang stehen, nahm die Brille ab und überprüfte, ob das textmarkergelbe Klebeband den Bügel noch zusammenhielt. Nach einer halben Minute war er mehrmals aus dem Weg geschoben und dreimal geküsst worden, von drei verschiedenen Personen, von denen eine Bartstoppeln gehabt hatte. Er setzte die Brille wieder auf. Als die Welt um ihn herum endlich aufklarte, war Lawn verschwunden. Wahrscheinlich kennt sie hier 167 Leute, dachte Siebeneisen. Er setzte sich auf die unterste Stufe der Holztreppe, die in die oberen Etagen führte. Er kam aus Oer-Erkenschwick. Er ging nicht oft auf Partys. Er musste das hier erst einmal auf sich wirken lassen.
    Die Band spielte in der Diele, sechs alte, hagere Männer in Totengräberanzügen, jeder mit einem Gesicht wie aus einem Film von Ingmar Bergman. Um sie herum standen, tanzten und klatschten die Gäste, Frauen in Audrey-Hepburn-Cocktailkleidern, schwitzende Männer mit Bowler-Hüten, tätowierte Biker, drei Mädchen, die mit Korsetts und Strapsen bekleidet waren und möglicherweise auch noch mit einem dritten Kleidungsstück, das konnte Siebeneisen von seiner Treppe aus nicht erkennen. Etliche Gäste trugen eine Garderobe, die während der Prohibition modern gewesen sein mochte und Jahrzehnte voller Südstaatenschwüle, Mottenplagen und Hurrikane wundersamerweise absolut schadlos überstanden hatte. Andere wirkten, als seien sie auf dem Weg zu einem Maskenball in Venedig gewesen und nur versehentlich in diesem Haus gelandet. Unter der Decke hing ein Banner, »Wir retten unsere Stadt!«, offenbar das Motto des Abends. Siebeneisen entdeckte den Rezeptionisten der Villa La Reina, der seinen Vogel mitgebracht hatte. Der Papagei wippte mit ausgebreiteten Flügeln auf der linken Schulter des Mannes und unterstützte den Schlagzeuger der Band mit aufgeregten Zisch- und Klacklauten. Als er Siebeneisen in der Pause zwischen »St. James Infirmary« und »Waitin’ for Robert E. Lee« bemerkte, plusterte er sich auf, imitierte das Hornsignal einer Kavallerie und krächzte ein »Gefreiter Virgil Kane meldet Feindsichtung!« in den Raum, worauf sich etliche Leute nicht etwa nach dem Vogel, sondern nach Siebeneisen umdrehten. »Ignorieren Sie ihn einfach!« Der Rezeptionist winkte ihm zu. »Archibald hat ’nen Vogel. Er glaubt, er lebe im 19. Jahrhundert, und der Krieg tobe vor den Toren der Stadt.« Archibald sah seinen Besitzer an, als habe der nicht alle Tassen im Schrank. Er legte den Kopf nach hinten und schmetterte erneut das Hornsignal. Dieses Mal so laut, dass der Kornettspieler sich in seinem Solo verhedderte und irritiert zu seinem Trompeter hinübersah.
    Siebeneisen fand Lawn im Badezimmer, wo sie gerade zwei Flaschen aus einer Badewanne fischte, die bis zum Rand mit Eiswürfeln und Bier gefüllt war. Sie öffnete beide und gab ihm eine. Siebeneisen stellte

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