Donnerstags im Park - Roman
Bruders mit fünfzehn brachte sie vollkommen aus dem Gleichgewicht. Beide Eltern sind inzwischen schon eine Weile tot. Meine beste Jugendfreundin Michelle, eine Halbkanadierin, ist nach Toronto übergesiedelt.« Jeanie überlegte kurz, was Michelle von der Situation gehalten hätte. »Was wollten Sie sonst noch wissen? Ach ja: Karotten sind mir eher gleichgültig. Am liebsten mag ich sie roh, und für ein Lieblingslied kann ich mich nicht entscheiden.«
»Woran ist Ihr Bruder gestorben?«
»An Krebs. Heutzutage hätte er wahrscheinlich überlebt; inzwischen ist die Heilungsrate bei Kindern ziemlich hoch …« Sie plapperte weiter über die Wunder der Medizin, um nicht über ihre Trauer reden zu müssen. Darüber hatte sie kaum je gesprochen, seit dem Morgen, an dem ihr Vater zu ihr ins Zimmer gekommen war, um ihr mitzuteilen, dass Will nun »bei Gott« sei. Ihre Eltern hatten ihr nicht helfen können, und alle anderen schienen ihre Gefühle nicht zu berühren.
»Schrecklich«, bemerkte Ray.
In ihrem Kopf hörte sie noch immer Wills Stöhnen. Am Ende war er von ihrer Mutter und einer Frau aus dem Ort zu Hause gepflegt worden. Jedes Mal, wenn sie ihn umbetteten, hatte sie sein gequältes Ächzen gehört. »Er ist auf dem Weg der Besserung«, hatte ihre Mutter ihr versichert, und Jeanie hatte es ihr geglaubt, obwohl sie die Wahrheit in ihrem Gesicht las.
»Sie müssen am Boden zerstört gewesen sein«, sagte Ray. Seine Miene verriet, dass er wusste, was sie durchlitten hatte.
»Es ist lange her.«
»Das ändert nichts an den Tatsachen.«
Jeanie nickte. »Ja und nein.« Unvergossene Tränen von Jahrzehnten traten ihr in die Augen. Ray streckte die Hand nach der ihren aus. Als der Kellner das Essen servierte, fuhren sie auseinander wie Teenager, die beim Knutschen erwischt worden waren.
»Tut mir leid, manchmal überkommt es mich immer noch.« Ohne großen Appetit nahm sie ein Stück warmes Pitabrot. »Jetzt sind Sie dran«, sagte sie. »Erzählen Sie mir, was aus Ihrer Freundin geworden ist, für die Sie Ihre Frau verlassen haben«.
Ray wandte den Blick ab. »Wir waren elf Jahre lang zusammen … dann ist sie gestorben. Sie war die ganze Zeit müde und hatte Verdauungsprobleme. Als sie schließlich zum Arzt ist, war der Tumor an der Nebenniere so groß wie eine Grapefruit. Man konnte nichts mehr für sie tun; sechs Wochen später war sie tot.« Ray sah Jeanie an. »Im Januar war ihr zehnter Todestag.«
»Das tut mir leid.«
»Sie hat viel geraucht«, fügte er hinzu, als suchte er nach wie vor nach einer Erklärung.
Eine Weile hingen sie schweigend ihren jeweiligen Erinnerungen nach. Das Essen lag fast unberührt auf ihren Tellern.
»Was haben Sie Ihrem Mann gesagt, wo Sie sind?«
»Frauenabend mit meiner Freundin Rita und deren Freundin Lily.«
»Wird er Fragen stellen?«
Jeanie zuckte mit den Achseln. »Kommt drauf an. Wenn er wieder eine seiner zwanghaften Phasen hat, könnte es sein, dass wir das Warum und Wieso ewig diskutieren.« Sie bekam eine Gänsehaut. Weshalb hatte sie sich nur auf dieses Treffen mit Ray eingelassen?
Es entstand eine verlegene Pause.
»Tut mir leid … Schlechtes Thema«, murmelte Ray und schob Jeanie den kleinen Teller mit Hummus hin.
Jeanie tunkte etwas davon mit Pitabrot auf, während sie weitersprach. »Ich könnte als Entschuldigung anführen, dass ich eine grässliche Ehe führe, dass mein Mann ein Mistkerl, Langweiler oder beides ist, dass ich ihn nicht liebe, aber …« Sie sah Ray in die Augen. »Das würde alles nicht stimmen.«
Ray wartete.
»Wir sind glücklich.« Plötzlich klang das Wort hohl. Sie musste zugeben, dass sie mit ihrem Mann schon lange nicht mehr »glücklich« war. Der Zwischenfall im Schlafzimmer schien seine Lebenseinstellung verändert zu haben. Er wollte sich nicht mehr mit Freunden treffen, zum Essen, ins Theater oder Kino gehen, selbst dann nicht, wenn Jeanie sich erbot, es zu organisieren. Deshalb unternahm sie viel mit Rita. »Alles in allem ist es keine schlechte Ehe.«
»Sie müssen mich nicht überzeugen. Über dreißig Jahre mit jemandem zusammen zu sein, ist ziemlich beeindruckend.«
Jeanie seufzte. »Ich versuche nicht, Sie zu überzeugen.«
Er hob fragend die Augenbrauen.
Diesmal nahm Ray ihre Hand fest in die seine. »Jeanie, ich will nicht zum Grund für Ihren Kummer werden. Ich finde Sie wirklich attraktiv, aber noch ist nichts geschehen: Wir können die Sache abblasen, bevor wir Schaden anrichten.«
Schaden, dachte sie.
Weitere Kostenlose Bücher