Donnerstags im Park - Roman
war sie alt und albern und wusste nach Ansicht ihrer Familie nicht mehr, was sie wollte. Damit ließen sich die Lügen und die Schuldgefühle aber leider nicht wegdiskutieren.
»Ich treffe mich morgen mit Rita«, hatte sie George gesagt.
George hatte den Blick von seinem Kreuzworträtsel gehoben und genickt. »Was schaut ihr euch an?«
Jeanie hatte die Geschirrspülmaschine eingeräumt, Wasser über Messer, Gabeln und Löffel laufen lassen und sie mit dem Griff nach unten in den Besteckkorb gesteckt.
»Keinen Film. Wir machen einen Frauenabend. Lily stößt vielleicht auch dazu.«
»Wie geht’s Lily? Schade, dass sie nicht zu dem Fest kommen kann.« Er hatte seine Brille hochgeschoben und nicht ohne Schadenfreude hinzugefügt: »Jetzt ist es nicht mehr lang hin.«
Jeanie nahm kaum wahr, wie ihr Geburtstag näher rückte. Er war im Moment das Letzte, woran sie dachte. Sie hatte nur noch die Lügen im Kopf, die sie erzählte. Und Ray. Doch erstaunlicherweise schien George nichts zu merken.
»Kaffee?«, hatte sie ihren Mann gefragt und die Antwort schon gewusst, weil sie alle seine Antworten kannte. Noch wenige Wochen zuvor hätte sie das als tröstlich empfunden, aber jetzt ärgerte es sie. Hätte George doch nur ein einziges Mal gesagt: »Nein, weißt du was? Heute hätte ich gern ein Tässchen Brennnesseltee, Schatz.«
Nun wurde sie also, durchgefroren und mit einem flauen Gefühl im Magen, zum Westtor des Parks auf der Seite des Haupteingangs zum Highgate-Friedhof dirigiert.
»Wo gehen wir hin?«
»Ich dachte, zu dem neuen Griechen unten am Hügel.«
Ray wirkte genauso angespannt und schüchtern wie sie selbst. Verschwunden waren die Gelassenheit und das spitzbübische Lächeln.
»Kommt zurück, Enkel, euch ist alles vergeben.« Er lachte nervös.
»Ich glaube, ich brauche einen Drink.«
»Ich auch.«
»Ist kein gutes Zeichen, wenn wir Alkohol brauchen, um es miteinander auszuhalten«, stellte sie fest.
»Seit der SMS habe ich nur noch an Sie gedacht«, gestand Ray zu Jeanies Überraschung.
Sie gingen weiter, ohne einander anzusehen. Als Jeanie hörte, was er sagte, entspannte sie sich. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass er möglicherweise unter genauso großer Verwirrung litt wie sie.
Das Lokal war, abgesehen von einem jungen Paar am Fenster, das Bier aus der Flasche trank und sich eine Vorspeisenplatte teilte, leer, stellte Jeanie erleichtert fest. Sie hatte seit den ersten Minuten mit Ray alle Passanten begutachtet und nur darauf gewartet, dass einer ihrer zahlreichen Bekannten sie zusammen sah. Das Restaurant empfand sie als zu modern, die Kellner als übereifrig, die Einrichtung als zu schlicht und atmosphärelos. Man bot ihnen einen Tisch in der Nähe des anderen Paars an – vermutlich, dachte Jeanie, gefiel den meisten Menschen das Gefühl, sich beim Essen in Gesellschaft zu befinden –, doch Ray wählte einen am anderen Ende des Raums.
»Was halten Sie von dem Lokal?« Er sah sich um.
»Ist schon in Ordnung«, antwortete Jeanie ehrlich.
Sie saßen einander gegenüber. Als der Wein bestellt war, begann ihr Herz wie wild zu pochen. Jeanie wollte Rays Blick erwidern, erneut seine Eindringlichkeit spüren, wagte es jedoch nicht, ihn anzusehen. Sie richtete das Besteck aus, entfaltete die braunrote Papierserviette und legte sie auf ihren Schoß.
»Zum Wohl.« Sie hoben die Gläser und nahmen einen Schluck. Jeanie hoffte auf die beruhigende Wirkung des Alkohols.
»Erzählen Sie mir alles«, forderte Ray sie auf.
»Was alles?«
»Ihr Leben, wo Sie geboren wurden, wer Ihre beste Freundin war, Ihr Lieblingslied und ob Sie Karotten mögen … das Übliche halt.«
»Wie lange haben Sie Zeit?« Inzwischen lachten sie beide, unabhängig davon, was sie sagten. Es genügte, einfach dazusitzen, zuzusehen, wie der Kellner die kleine Kerze auf dem Tisch anzündete, und einander in die Augen zu schauen.
»Wollen Sie das wirklich wissen?«
Ray nickte.
»Ich bin in Norfolk, in der Nähe von Holt, zur Welt gekommen. Mein Vater war Geistlicher der Church of England, arbeitsam, achtbar … und angsteinflößend. Möglicherweise hätte er glücklich sein können, wenn das seiner Ansicht nach der Wille Gottes gewesen wäre, aber leider begriff er das Leben als leidvollen Opfergang. Ich weiß nicht einmal, ob er uns wahrgenommen hat, so durchdrungen war er von seiner Berufung. Mutter arbeitete in der Gemeinde, hatte ein gutes Herz, war jedoch nervtötend neurotisch. Der Tod meines zwei Jahre älteren
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