Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Donnerstags im Park - Roman

Donnerstags im Park - Roman

Titel: Donnerstags im Park - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Boyd
Vom Netzwerk:
nicht.«
    »Sie meint den fest verankerten, nicht den wackeligen.«
    Jeanies Puls normalisierte sich, als sie die Hand ihrer balancierenden Enkelin hielt, aber sie wagte nach wie vor nicht, Ray anzusehen.
    »Und jetzt Sie«, forderte sie ihn auf. »Probieren Sie’s.« Sie deutete auf den glatten, runden Balken, der leicht in seiner Verankerung schwang.
    »Wenn Sie meine Hand halten.« Er grinste.
    »Von wegen … Schau, Ell.« Sie deutete auf Ray. »Ray balanciert gleich über den Wackelbalken, ohne runterzufallen.«
    Sie hätte nie gedacht, dass Ray das tatsächlich tun würde, doch er sprang elegant auf den Sockel, breitete die Arme aus wie ein Seiltänzer und trat auf den Balken, der nur leicht unter seinem Gewicht schwang, als er darüberging. Applaus erklang von Kindern und Erwachsenen, die sich versammelt hatten, um das Spektakel mitzuverfolgen.
    Ein kleiner Junge hüpfte aufgeregt auf und ab. »Noch mal, noch mal.«
    Ray zögerte. »Okay, einmal noch.«
    »Angeber!«, neckte Jeanie ihn, als die Zuschauer sich zerstreut hatten.
    »Sie haben mich dazu gebracht.«
    »Stimmt … Wo haben Sie das gelernt?«
    »Ich bin als Junge von zu Hause weggelaufen und zum Zirkus.«
    Jeanie verdrehte die Augen.
    »Na schön, ich mache Aikido – da lernt man Körperbeherrschung.«
    »Kampfsport?«
    »Ja, aber letztlich geht’s dabei nicht so sehr ums Kämpfen, sondern ums Spirituelle. Das erkläre ich Ihnen ein andermal. Ich habe eine Schule, einen Klub, in Archway.«
    Allmählich begriff Jeanie, warum Ray so gelassen und fit wirkte.
    Ellie hatte eine Gruppe älterer Jungen entdeckt und folgte ihnen in sicherem Abstand entlang den Bäumen am Rand des Spielplatzes.
    »Chanty und Alex sind nächste Woche weg, in der Bretagne, was heißt, dass ich nicht herkommen werde«, sagte Jeanie, nervös Rays Blick ausweichend.
    »Treffen wir uns trotzdem.«
    »Wie bitte?« Sie sah ihn verblüfft an.
    »Treffen wir uns, Jeanie.« Seine Stimme klang tief und eindringlich, und seine graugrünen Augen, die denen Dylans so sehr ähnelten, strahlten.
    »Ich … Ich kann nicht.«
    »Können oder wollen nicht?«
    Jeanie seufzte. »Ray, ich bin verheiratet. Ich kann mich nicht einfach mit Ihnen treffen. Ich kenne Sie ja kaum.«
    »Es wäre doch nur auf einen Drink! Ich habe nichts Unschickliches im Sinn, obwohl …« Er schmunzelte, als sie ihn wütend ansah.
    »Nur auf einen Drink«, wiederholte er. Sie versuchten beide zu lachen, aber es klang verkrampft. Jeanie ließ den Blick über den Spielplatz schweifen, um festzustellen, ob sie beobachtet wurden.
    »Tut mir leid.« Er bemerkte ihre Verzweiflung. »Es ist eine ganze Weile her, dass ich mich das letzte Mal so gefühlt habe … Ich dachte, es könnte uns beiden Spaß machen.«
    »Ich sagte, ich kann nicht.« Sie klang nicht überzeugt, und das entging ihm nicht.
    Er zog seine Visitenkarte aus der Jackentasche und reichte sie ihr. »Falls Sie es sich anders überlegen.«
    Vom Heimweg bekam Jeanie nicht viel mit. Ihr Körper war, jetzt, da Rays Visitenkarte ein Loch in ihre Jeanstasche zu brennen schien, urplötzlich zum Leben erwacht. Zum ersten Mal seit zehn Jahren … nein, zum ersten Mal im Leben empfand sie ein körperliches Begehren, das ihr den Atem raubte.
    George hatte sich seinerzeit mit seiner Werbung um sie Zeit gelassen. Sie war hingerissen gewesen von seiner unaufdringlichen Galanterie – er hielt ihr jede Tür auf, lud sie ein und brachte sie immer nach Hause –, in einer Zeit der Büstenhalterverbrennungen und des allgegenwärtigen Feminismus. Außerdem hatte er sich als amüsanter Gesellschafter erwiesen, der die gemeinsamen Abende mit militärischer Präzision plante. Er führte sie ins Theater im Park, in ausländische Filme oder in Pubs am Fluss aus. Ihre Arbeit als Krankenschwester war anstrengend und schlecht bezahlt gewesen, so dass es sie freute, wenn George sie mit seinem weißen MG-Cabrio abholte und etwas Schönes mit ihr unternahm.
    Dann war völlig unerwartet ihr Vater gestorben, beim Entwurf einer Predigt einem schweren Herzinfarkt erlegen. Ihre Mutter hatte ihn mit dem Gesicht nach unten vorgefunden, als er auf ihr Rufen, das Essen sei fertig, nicht reagierte. George hatte alles in die Hand genommen, Jeanie nach Norfolk begleitet, den Kontakt zum Bestattungsinstitut hergestellt, die Verwandten informiert, einen kleinen Imbiss für die Trauerfeier organisiert, sich um die Sterbeurkunde gekümmert. Er hatte sich nicht aufgedrängt, sondern sie und ihre Mutter

Weitere Kostenlose Bücher