Doppelgänger
Nachdem Tom die Fenster abgedunkelt hatte, setzte er sich zu den anderen auf einen der Stühle und blickte zur Leinwand, die auf seinem Schreibtisch aufgestellt worden war. Die Entfernung zwischen ihr und dem Projektor war zu gering, um ein großes Bild zu projizieren, doch es war klar und scharf genug, um jedes Detail erkennen zu können.
Als erstes hatten sie einen Ausblick auf die Weite des Meeres vom Heck der Jolly Roger aus. Köpfe und Arme schoben sich sekundenlang ins Bild. Dann sahen sie Rory und einen zweiten, muskulöseren jungen Mann, die an einer Angelleine zogen. Die Kamera schwenkte wieder zum Wasser, und jetzt begann sich dicht unter seiner Oberfläche etwas abzuzeichnen. Rory stoppte den Projektor, als es zappelnd aus dem aufschäumenden Wasser auftauchte. Das Standbild zeigte deutlich, dass es ein Fisch war. Nachdem er diese Tatsache klargestellt hatte, startete er den Motor wieder und ließ den Film durchlaufen, bis die Kreatur zum zweiten Mal an die Oberfläche kam. Und jetzt war deutlich zu erkennen – trotz des Wassertropfens, der auf das Objektiv gespritzt war und einige Details verwischte –, dass sich die Form von Rorys Beute grundlegend verändert hatte.
Sie blickten alle Branksome an.
Der schwieg eine ganze Weile, dann sagte er leise: »Dieser Film … haben Sie ihn zusammengeschnitten?«
»Ich kann Ihnen ein Dutzend Zeugen bringen, die Ihnen bestätigen werden, dass alles so abgelaufen ist, wie sie es eben gesehen haben«, sagte Rory ungeduldig.
»Ich gebe auf«, seufzte Branksome. »Dr. Innis, was für eine Schlussfolgerung haben Sie von mir erwartet?«
»Entschuldigen Sie«, sagte Netta. »Ich glaube, da ist noch ein Punkt, den wir berücksichtigen müssen. Gehen wir ins Labor zurück.«
Sie war als erste bei der Tür, und die anderen folgten ihr. Im Labor nahm Netta einen Glasstab in die Hand und stieß damit in die losen Hautfalten um die Mittelpartie des Fisches.
»Sergeant, stellen Sie sich bitte vor, dass dieser Fisch aufrecht stünde, wie ein Mensch. Woran würden diese losen Hautpartien Sie erinnern?«
»An ein … einen Rock, würde ich sagen«, meinte er nach einigem Zögern, und die anderen nickten zustimmend.
»Es widerspricht allem, was ich jemals gehört habe«, seufzte Dr. Innis, »aber mangels einer logischeren Erklärung muss ich es akzeptieren. Sie haben eine Hypothese entwickelt, Kollega: ich möchte Sie bitten, sie zu detaillieren.«
»Ich bin der Meinung, dass dies ein Lebewesen ist, das seine Form verändern kann«, sagte Netta. Sie war blass. »Oder vielleicht ist es nicht ein Lebewesen – ich habe mir ein paar Gewebeproben unter dem Mikroskop angesehen, und obwohl ich noch keine Zeit gefunden habe, sie eingehender zu untersuchen, kann ich doch jetzt schon sagen, dass sie sich nicht nur ganz wesentlich von jedem anderen piscinen Zellmaterial unterscheiden, sondern dass sogar zwischen den einzelnen Proben erhebliche Unterschiede bestehen. Vielleicht ist es eine Art Vielzeller, wie eine Qualle oder ein Nautilus, eine neue Art von Zellkolonie, was weiß ich.«
»Aber woher sollte so ein Tier sein genetisches Material bekommen?« fragte Tom. »Außerdem müsste es sich in einem beinahe flüssigen Zustand befinden, um zu so radikalen Formveränderungen fähig zu sein.«
»Die Tatsachen lassen sich aber nicht wegleugnen«, sagte Netta entschieden. »Ich behaupte, dass diese Kreatur die gleiche ist, die Sergeant Branksome und Paddy Ryan und alle anderen für eine alte Frau gehalten haben. Ich könnte mir vorstellen, dass sie die notwendigen DNS- und RNS-Kodes ihrer Beute entnimmt und deren genetischen Kode lediglich modifiziert, um die Identität ihrer Spezies zu bewahren. Sie muss sich außerdem asexuell vermehren – durch einfache Teilung.«
»Mein Gott!« murmelte Tom und starrte ins Leere. »Es passt alles zusammen …«
»Nur zu gut«, sagte Dr. Innis kaum hörbar. »Sprechen Sie weiter, Kollega!«
Sie spürte die erwartungsvollen Blicke der anderen auf sich, besonders die der Laien – Rory, Branksome und Fleet –, als sie fortfuhr.
»Also gut … Wir müssen annehmen, dass es zwei verschiedene Veränderungsformen gibt, zu denen diese Kreatur fähig ist. Die erste ist eine simple Tarnung. Ein Räuber kann sich schließlich keine bessere Garantie für ein ständiges Nahrungsangebot wünschen, als die Fähigkeit, sich als einer seiner Futterfische zu tarnen. Diese Fähigkeit kommt ihm natürlich besonders zustatten, wenn die Beute knapp wird.
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