Doppelspiel
Kuchin das noch nie gern getan. Er machte einen Spaziergang. Als er am Weißen Haus vorbeikam, blieb er stehen und blickte durch den schmiedeeisernen Zaun. Vor dreißig Jahren hatten Kuchin und seine sowjetischen Kameraden alles in ihrer Macht Stehende getan, um den Mann zu besiegen, der dort residierte. Der Kapitalismus war böse, und persönliche Freiheiten sogar noch kontraproduktiver. Marx hatte recht gehabt, Lenin sogar noch mehr, und Stalin und seine Nachkommen hatten das System perfektioniert. Doch zu guter Letzt hatten sie sich alle geirrt. Die Mauern des Kommunismus waren zusammengebrochen, Kuchin war geflohen, und nun lebte er wie ein König im Land seiner früheren Erzfeinde und nutzte dieselben Werkzeuge des freien Markts, gegen die er früher so fanatisch gekämpft hatte. Nun ja, entweder passte man sich an, oder man ging unter, sinnierte er.
Kuchin sah einen uniformierten Agenten des Secret Service, der ein ungesundes Interesse an ihm zu entwickeln schien. Kuchin trat vom Zaun zurück und ging weiter in Richtung Fifteenth Street. Er atmete die frische, warme Luft ein und zeigte ein mittelmäßiges Interesse an den Touristengruppen und ihren dummen Kameras.
Sein Handy summte.
»Ja?«
»Sie hat gerade Geld gezogen«, sagte sein Freund. »An der Ecke M und Thirty-first in Georgetown. Ich warte noch auf das Bild aus dem Automaten, um das zu bestätigen.«
Kuchin rief sofort den Mann an, der der Position am nächsten war, und lief dann in sein Hotel zurück. Fünf Minuten später saß er in einem gemieteten SUV und fuhr in Richtung Westen, nach Georgetown. Der Verkehr war übel, die Kreuzungen verstopft. Nervös trommelte Kuchin mit den Fingern auf die Scheibe. Sein Handy summte erneut. Er war noch immer mindestens zehn Minuten von seinem Ziel entfernt.
»Ja?«
»Keine Spur von ihr, Sir«, berichtete Manuel.
»Ruf den Rest des Teams. Sichert zehn Blocks im Umkreis des Bankautomaten. Vier Mann sollen jeden Quadratzoll von dort abgehen, und zwei Mann sollen den Rand des Suchgebiets abfahren, jeweils in entgegengesetzter Richtung. Sobald ich kann, werde ich ebenfalls da sein. Sie hat gerade Geld gezogen; also können wir wohl davon ausgehen, dass sie es für irgendetwas ausgeben wird. Überprüft jeden Laden und jedes Restaurant, das ihr für einen wahrscheinlichen Ort dafür haltet.«
Kuchin steckte das Handy wieder in die Tasche. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass sie sie nicht beim ersten Versuch finden würden. Das war einfach zu leicht, zu viel Glück. So etwas passierte nur im Film, aber nicht im richtigen Leben. Doch jetzt hatten sie ein Zielgebiet, und Kuchin wusste vermutlich so gut wie kaum jemand auf der Welt, wie man so etwas durchsuchte.
Kapitel einundachtzig
E rzähl mir von Kuchins Freund«, sagte Shaw.
»Von was für einem Freund?«, fragte Reggie.
»Von dem Dünnen mit dem weißen Haar, der Dominic in den Arm geschossen hat.«
Es war spät in der Nacht, und sie saßen in einem kleinen Raum im ersten Stock von Harrowsfield, den Reggie sich mit Whit als so eine Art Büro teilte. Er war mit allem Möglichen vollgestopft. Reggie saß auf dem einzigen Stuhl, und Shaw hockte unbequem auf einem kleinen Karton. Draußen regnete es leicht.
»Alan Rice. Er ist ein Angestellter von Kuchin.«
»Was sonst noch?«
»Ich habe nur ein paarmal mit ihm gesprochen. Eine komische Sache war da allerdings.«
Shaw richtete sich ein wenig auf. »Wort für Wort bitte.«
»Nun, wörtlich erinnere ich mich nicht daran, aber er hat mich gewarnt. Vor Kuchin … Allerdings hat er natürlich den Namen Evan Waller benutzt.«
»Er hat dich gewarnt? Wie das denn?«
»Er hat gesagt, sein Boss könne bei Frauen manchmal komisch sein. Das sei auch früher schon so gewesen. Besessen. Zusammengefasst hat Rice mir geraten, ich solle mich lieber aus dem Staub machen.«
»Er hat sich Sorgen um deine Sicherheit gemacht?«
»Offenbar ja; allerdings hat er gesagt, er tue das, um seinen Boss zu schützen.«
»Das ist interessant.«
»Warum?«
»Weil ich glaube, dass Rice versucht hat, seinen Boss in der Krypta zu töten.«
Reggie riss schockiert die Augen auf. »Was? Wie kommst du darauf?«
»In einer Krisensituation schießt du auf das Primärziel, Reggie, nicht auf Sekundärziele.«
»Ich kann dir nicht ganz folgen.«
»Rice hatte seine Waffe auf Whit gerichtet, der noch nicht einmal in der Nähe von Kuchin war. Dominic hingegen war nur gut einen Fuß rechts von Kuchin. Als ich den ersten Kerl
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