Doppelte Schuld
wie die von Blanckenburg in den letzten drei Jahren war für jede Gemeinde dieser Größenordnung unwahrscheinlich – egal, ob im Kapitalismus oder im Sozialismus.
»Wenigstens ist es keiner von hier.«
Ja, das war schon immer die wichtigste Frage gewesen, für jede menschliche Gemeinschaft: Ist es einer von uns?
Katalina zog Liaos Lefzen hoch. Die Mundschleimhaut war gut durchblutet und wirkte gesund, wie der ganze Hund.
Und was war, wenn es so wäre? Wie damals in Bosnien, als sogar in Glogovac Nachbar gegen Nachbar kämpfte? Als Väter ihre Söhne und Töchter ihre Väter verrieten? Katalina hatte schon wieder dieses eisige Gefühl im Magen.
Als die Werner endlich abzog, nicht ohne Theorien zu entwickeln über den Kapitalismus, der sozusagen naturgemäß zu Toten im Schloßpark führen mußte, ging es erst richtig los. Keines der Tiere hatte ein echtes Problem, es waren nur ihre Besitzer, die unter unstillbarer Neugier litten. »Haben Sie etwas gehört?« war die erste Frage, die die Unhöflichen an sie richteten. Bei den Guterzogenen war es die zweite Frage.
Als auch die alte Frau Wilhelmi endlich gegangen war, deren Kater nichts fehlte außer der Schwanzspitze und einer Abmagerungskur, schloß Katalina die Praxis. Der alte Opel sprang schon beim dritten Versuch an, und ihre Stimmung hob sich auf dem Weg zu Tenharden nach Cattenstedt. Die Bäume begannen bereits, ihre Farbe zu wechseln, und die feinen Fäden in der Luft verrieten den Altweibersommer. Sie dachte an kürzer werdende Tage, sinkende Temperaturen und, zum Trost, an wärmende Kaminfeuer und funkelnden Rotwein im Kerzenlicht.
Nur der Anguszüchter hatte heute ein echtes Anliegen. »Marten.« Tenharden machte, wie üblich, nicht viele Worte. »Kannst du mal nach ihm sehen?«
Marten, der alte Knecht, hielt Ärzte für Quacksalber und Geldschneider. Aber eine Frau, die mit Pferden und Kälbern umgehen konnte, genoß seinen Respekt. Vor drei Monaten hatte sie ihm einen Abszeß am Ellenbogen geöffnet. Aber diesmal schien es etwas Ernstes zu sein.
Tenharden war ein schwerer Mann, der sich mit auffallender Grazie bewegte. Er liebte seine Tiere, was man bei einem dickköpfigen Landmann nicht unbedingt voraussetzen konnte. Manchmal fragte sie sich, warum er keine Frau hatte, warum sich nie mehr ergeben hatte aus dem sprachlosen Einverständnis, das von Beginn an zwischen ihnen geherrscht hatte.
Katalina folgte ihm über den Hof, zum Seitentrakt, in dem der alte Marten wohnte. Für einen kurzen Moment, als sie merkte, daß er ihr nahe genug war, um wie aus Versehen ihren Arm zu berühren, war sie versucht gewesen, Tenharden alles zu erzählen. Wie sie den Toten gefunden hatte, gestern morgen. Daß sie ihn wiedererkannt hatte. Daß er am Tag zuvor in der Praxis aufgetaucht war, um sie auszufragen. Und daß sie ihn für einen schüchternen Mann gehalten hatte, bis er das Wort »kooperationsbereit« benutzte – eine Vokabel, die ihr Kälteschauer über den Rücken jagte.
»Der Tote, da oben, bei euch im Park …« Konnte Tenharden Gedanken lesen? Er sah sie nicht an, sondern kickte mit der Fußspitze einen Pferdeapfel beiseite. Marten mußte ziemlich krank sein, sonst wäre der Hof blitzsauber gewesen.
»Mein Park ist es nicht.« Sie rückte von ihm ab.
Tenharden sah sie an, als wäre sie ein störrisches Pferd, das man beschwichtigen müsse. »Mein Schwager sagt, der Kehlkopf des Mannes sei regelrecht zerschmettert worden.«
Katalina schluckte. Tenhardens Schwager arbeitete im Kreiskrankenhaus, dem entging nichts. Es war also Mord.
»Da wird wieder einiges los sein bei euch.« Tenharden sah sie immer noch an, fast zärtlich.
Katalinas Magen krampfte sich zusammen. Sie war in Gedanken plötzlich da, wo sie nie wieder hinwollte: in Glogovac an einem schwülen Sommerabend im Jahre 1992. Sie sah Mirko auf sich zukommen, Slobo und Vladi im Schlepptau. Kujo. Und Djonjon. Sie spürte die Schläge, den Kies unter ihren Knien, die barmherzige Dunkelheit, aus der Milo sie zurückholte. Milo, ihr Bruder, der sie ihren Vergewaltigern ausgeliefert hatte. Und sie erinnerte sich an den Schmerz, der sie schier zerriß, als ihr Vater ihr sieben Monate später das Kind aus dem Leib trat.
Djonjon wurde Jahre später vor ein Kriegsgericht gestellt, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er war ein guter Folterknecht gewesen. Kujo war Politiker geworden, ihn hatte man vor zwei Jahren ermordet, angeblich, weil er zu einer Gefahr wurde für die alten Kämpfer. Und
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