Dorn: Roman (German Edition)
Wind, der vom Golf aus hereinwehte und in den Grotten verwirbelte: Eine zum Himmel gereckte Faust. Das Gesicht des Mannes wirkte verblüffend jung. Viel jünger als seine Stimme oder seine Augen es einem glauben machen wollten. Hellblondes, beinahe weißes Haar flatterte zerzaust im Wind. Und etwas, das noch viel weniger zu seiner Statur eines weit herumgekommenen Kriegers passen wollte, zierte sein rechtes Auge: ein Monokel.
Leonhrak grüßte den breiten Mann mit dem hellen Gesicht mit seiner rustikalen Art.
»In der Tat«, meinte er. »Die sind wir. Und mit wem haben wir die Ehre?«
»Eklipto von Pantus«, murmelte ich eine Spur zu laut neben ihm. »Großmeister des Ordens der Steinernen Hand.«
Unser Gegenüber nickte. »So ist es in der Tat. Ich erfülle meine Pflicht mit Stolz, auch in diesen schweren Tagen.«
»Entschuldige, Großmeister«, meinte ich verlegen. »Das sollte nicht abschätzig klingen … aber meine Erinnerungen an diesen Ort sind … sagen wir sie sind nur bedingt erinnernswert.«
»Du hast eine Menge durchgemacht, Graf. Zumindest nach allem, was man so hört.«
»Ich bin noch nicht am Ende.«
»Oh nein«, versprach Eklipto mit einem kurzen, bitteren Auflachen in der Stimme. »Das Ende bezieht viel zu bald Stellung draußen vor den Toren.«
»Aber das ist Wahnsinn«, ging Leonhrak dazwischen. »Anselieth kann man nicht einnehmen. Die Mauern sind breit und die Türme hoch. Im Osten liegen der Fluss und die Sümpfe von Leith. Und außerdem müsste man den Hafen blockieren, wenn man die Stadt belagern und aushungern wollte.«
Eklipto drehte sich mit seinem weißen Gesicht zu ihm um. Der Blick, der durch sein Monokel verzerrt wurde, war von markerschütterndem Ernst erfüllt. »Ach nein? Man kann die Hauptstadt nicht einnehmen?«
Leonhrak hielt dem scharfen Blick des Monokelgesichtes stand. »Ich wüsste nicht, wie.«
»So?«, resümierte der neue Großmeister, beinahe wie ein Lehrer vor seinem Schüler. »Dann frage ich dich, Prinz: Wie hat König Aan es seinerzeit angestellt, das alte Anselieth einzunehmen, wenn es doch strategisch so günstig liegt?«
Leonhrak schnaubte. Doch der Punkt des Großmeisters war gut. Ja, wenn die Stadt so uneinnehmbar zwischen Flussdelta, Meer und Sumpf lag und obendrein noch zur Hälfte auf hohen Klippen … wie hatte König Aan das Kunststück fertiggebracht, Anselieth zu erobern? Im Grunde gab es nur eine Lösung.
»Für gewöhnlich wiegt ein Mann oder eine Frau auf den Zinnen der Stadt fünf oder sogar zehn Feinde auf«, folgerte ich und mir wurde übel bei der Vorstellung. »So betrachtet braucht der Aggressor einfach nur genug Truppenstärke, um …«
Ich brach ab, als ich die Bestätigung in den Augen des Großmeisters sah.
»Bis dahin ist noch ein wenig Zeit«, meinte er beschwichtigend, aber der Ernst in seiner Stimme bekam nun ein völlig anderes Gewicht. »Ladet in Ruhe aus, kommt mit allen Leuten von Bord. Man wird euch eure Quartiere im Ostturm zeigen. Bei Sonnenuntergang erwartet die Königin eure Anwesenheit in der großen Halle.«
Also würde Ellyn uns noch heute empfangen. Ich nickte Eklipto dankbar zu. »Dann wünsche ich gutes Gelingen beim restlichen Tagwerk.«
»Ebenso. Nutzt die wenige Zeit zum Schlaf, die ihr noch bekommen könnt!«
Damit wandte er sich um und stapfte mit großen Schritten seiner Wege. Sein Körperbau hatte wirklich beeindruckende Ausmaße. Allein deswegen galt er vermutlich schon als Respektsperson. Aber er musste sich seine Reputation auch verdient haben. Der Orden wählte ausschließlich seine erfahrensten und führungsstärksten Leute in die Spitze. Vielleicht würde er ja noch von sich erzählen.
»Warum überlässt man Anselieth nicht einfach dem Fürsten von Gamar?«, fragte Leonhrak, während wir auf dem Weg in den Ostturm waren. Einen Teil des Nordmanntrosses hatten wir auf dem Weg gelassen, sie verstauten Gepäck und Proviant in den Speichern und Kellern des Palastes. »Ich meine, der Seeweg ist frei. Niemand auf Dorn besitzt in diesen Tagen eine Flotte, mit der man eine Seeblockade um Anselieth errichten könnte. Es wäre so einfach …«
»Aber dann bekäme Serion von Gamar genau das, was er will«, gab ich zu bedenken. »Anselieth ist eine strategisch wertvolle Ausgangsposition. Serion würde sie sich nicht mehr nehmen lassen. Im Gegenteil, er würde seine Machtansprüche unterstreichen.«
»Und wenn man die Hauptstadt bis auf die Grundmauern niederbrennen würde? Dann wäre nichts mehr
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