Dorn: Roman (German Edition)
durfte mich von keinem Gefühl der Welt übermannen lassen! Ich schluckte mein eigenes Entsetzen hinunter. Dann täuschte ich einen Schlag mit Erlenfang an. Ihre Parade war beinahe schon eine halbe Riposte, die ich erneut mit meiner Armschiene abfing, mich um die eigene Achse drehte und ihr Erlenfang mit voller Wucht in die Stelle hieb, in der sich zwischen Torsopanzer und Helm eine Lücke befand. Mit ausdruckslosen Augen kippte sie stumm hintenüber und riss mehrere ihrer Landsleute auf der Leiter unter sich mit in die Tiefe.
Erschüttert trat ich von der Brüstung zurück auf den Wehrgang, lehnte mich mit dem Rücken an eine Zinne und blickte an mir herab. Das Blut der jungen Frau aus Gramenfeld lief in einer dünnen Spur an meinem Brustpanzer herab. Ich rieb mit der Innenseite meines Unterarms darüber, aber das Kettenhemd, das unter meinen Schienen lag, verschmierte es bloß und zeichnete eine hässliche rote Fratze. Ich würde sie den Rest des Tages als mein eigenes blutrotes Banner vor mir hertragen und es würde mich und jeden daran erinnern, was wir hier eigentlich opferten. Ich kniff die Augen zusammen, verfluchte die Götter. Dann war er vorbei, mein schwacher Moment – niemand brauchte einen Kommandanten, den die Schrecken des Krieges in die Knie zwangen. Ich stieß mich von der Wand ab, verschaffte mir einen kurzen Überblick, erkannte die Schwachstellen in unserer Verteidigung und bellte meine Befehle über die Mauer.
Ertragen. Ich musste es schlicht und ergreifend ertragen.
Die Angriffe brachen ab, als die fortschreitende Dunkelheit sie zu risikoreich für Gramenfeld und Gamar machte. Einen Tag hatten wir überstanden, die Verteidigung auf den Mauern hielt. Die Nachtwache bezog Stück für Stück Stellung auf den Wehrgängen und Türmen. Kleinere und größere Feuer loderten auf den Plätzen und in den großen Straßen auf, um die sich Bewohner der Stadt wie Ordensleute versammelten um nicht allein sein zu müssen mit sich und dem Schrecken der Bilder, die in der Dunkelheit lauerten.
Denn nun kam die Stille. Und in der Stille lauert die Angst.
Im Haupttor des königlichen Palastes wartete Ellyn, meine Königin. Unsere Königin. Schön, aber auch schrecklich, wie der Sturm auf hoher See, stand sie dort, gehüllt in eine reflektierende Bänderrüstung und mit ihrem Diadem in den Haaren, die über ihren Rücken herabfielen. Sie stieg die Stufen vom Eingang hinunter, während ich erschöpft und mit dem Schrecken in den Gliedern über den Hof schlurfte, auf dem sie mich vor wenigen Monaten das erste Mal in Empfang genommen hatte. Nicht als Königin, sondern als Ellyn von Gamar, Tochter des Mannes, der unter dem Einfluss eines gefallenen Elbenprinzen das Verderben über uns brachte. Und von Anfang an hatte ich mich zu ihr hingezogen gefühlt.
Müde drückte sie mir einen Kuss auf die Stirn, der alles sagte. Ich weiß, das hier sollte nicht sein . Meine Haare hingen mir strähnig von Schweiß und Blut in die Augen, sodass ich sie nur verschwommen sah, während ich innehielt. Sie sang eine Zeile. So, wie sie es getan hatte, als sie mich das erste Mal geküsst hatte. Damals, als die Welt noch eine andere gewesen war.
Käme der Weiseste unter den Weisen dereinst ins Reich der Götter, jenseits der Welt
So wäre er doch nicht mehr als ein unwissendes Kind zwischen ihnen
Ihre Stimme klang brüchiger, ihre Kraft war geschwunden. So, wie alles schwinden würde, was wir kannten. Morgen oder übermorgen – in der nächsten Woche oder in der darauf. Es spielte keine Rolle. Der Elbenprinz hatte uns dort, wo er uns haben wollte: Müde, am Rande des Zerbrechens.
Ich ging weiter, ließ mir von Lemander eine Hand auf die Schulter legen und etwas ins Ohr flüstern, das ich sofort wieder vergaß. Lethargisch ließ ich mir die Teile der Rüstung abnehmen und fiel in der einer Seitenhalle auf eine Bank, bis ein kurzer, traumloser Schlaf mich umnachtete.
Als mich schließlich doch die Bilder des Tages im Traum einholten, schreckte ich hoch. Es war tiefe Nacht, nichts als Schwärze fiel durch die Fenster herein.
Ellyn saß neben meinem Kopfende und hielt meine Hand, während ich, aufgewühlt von den Schreckensbildern der Schlacht, vor mich hinstarrte, bis mein Geist sein volles Bewusstsein wiedererlangt hatte. Dann setzte ich mich gänzlich auf.
»Diese Tage sollten nicht unsere sein«, flüsterte sie und beschwor mich: »Schlaf, Deckard! Schlaf den Schlaf der Tapferen.«
»Ich kann nicht«, gestand ich matt.
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