Dorn: Roman (German Edition)
war, dass dieses ferne Reich wirklich existierte.
»Nach einigem Hin und Her schickten wir tatsächlich ein Schiff über diese Routen«, erklärte der Prinz weiter. »Und tatsächlich, die Männer fanden jenes Land. Es war reich, Türme von schillerndem Gold ragten in den Himmel. Die Luft soll rein gewesen sein wie am frühen Morgen und die Menschen von einer seltsam bronzenen Hautfarbe. Wir hatten tatsächlich einen Seeweg ins sagenhafte Reich Ebben gefunden.
Unsere Männer brachten reiche Handelswaren mit. Exotische Gewürze, fein gewebtes Seidentuch, allerlei bunte Früchte und wohlriechende Salben.
Der Elb hielt sich fortan vorwiegend in der Nähe meines Vaters auf und machte kluge Anmerkungen zu all seinen Entscheidungen. Wir machten den Schutz des Hafens gegen die Sturmfluten des Winters effizienter, wir bauten verbesserte Lagerhäuser, wir wurden zu Fruchtfolgen auf den Feldern beraten. Der neugewonnene Berater meines Vaters machte sich beim gesamten Volk beliebt durch seine scharfsinnigen Vorschläge und seine hervorragenden Ideen.
Und dann war er eines Tages fort. Niemand hatte ihn gehen sehen, niemand wusste wo er war. Auch hatte er keine Worte des Abschiedes hinterlassen. Er war fort, spurlos verschwunden.
Wenige Tage später begann das Altern. Erst ging es rasend schnell. Deckard, stell dir vor, es laufen Kinder durch Lukae und sie haben weißes Haar und Gesichter voller Falten. Ihnen fehlt die Kraft zum Ballspiel. Ihren Vätern fehlt die Kraft zum Schiffsbau und ihren Müttern reicht sie nicht für die Feldarbeit. Unser Volk geht zugrunde, Deckard.«
Entsetzen packte mich. Leonhraks Geschichte klang so absolut ungeheuerlich – doch er selbst war der lebende Beweis, dass es keine dumme Phantasie sein konnte. Ein Volk voll junger Leute, das quasi über Nacht zu einem Volk voller Greise wurde. Ich erschauerte.
Und dann kam mir ein flüchtiger Gedanke, den auszusprechen ich mich kaum traute.
»Wie war der Name eures elbischen Freundes?«, fragte ich behutsam.
Die von Tränensäcken geränderten Augen des Prinzen schauten mich bedauernd an.
»Linus.«
Das saß. Linus hieß auch der undurchsichtige Berater Serions von Gamar. War das ein Zufall? Hatte ich nicht einmal davon gehört, dass jeder Elb einen einzigartigen Namen besaß? Vielleicht täuschte ich mich auch. Doch der Name gab mir allerhand zu denken. Der Zustand der Nordleute allein wäre schon Grund genug dafür gewesen. Was mir weiterhin Kopfzerbrechen bereitete war das, was mir Leonhrak noch zu berichten hatte.
»Die Riesen verhalten sich merkwürdig«, meinte er, als ich den eigentlich Grund seines markanten Besuches in der Hauptstadt wissen wollte.
»Merkwürdig?«
»Sie sind aggressiv«, betonte der Harjenner-Prinz.
»Ich habe nie mit Riesen zusammengelebt«, gestand ich. »Daher weiß ich leider nicht, wie ein Riese sich normalerweise verhält.«
Das Einzige, das mir bestens bekannt war, war die Tatsache, dass die Nordleute auf ihren Inseln und die dort ansässigen Riesen friedlich nebeneinander lebten.
»Sprich nicht über sie, als seien sie Tiere!«, tadelte Leonhrak mich.
»Entschuldige, ich habe keine Kenntnis über die Lebensführung der Riesen. Ich wollte sie nicht beleidigen.«
»Egal«, winkte der Prinz ab. »Das Problem ist, dass die Riesen ihre Gelassenheit, ihre Seelenruhe verloren haben. Oder zumindest scheint es so. Sie sind zwar große, aber sonst sehr sanftmütige Geschöpfe, die kein Leid bei anderen Riesen oder Menschen verursachen.
Doch in letzter Zeit gibt es hier und dort marodierende Banden von Riesen. Berichte erreichten uns, nach denen die Riesen unruhiger werden. Bauern erzählten von Riesenfamilien, die ihre Viehbestände stehlen oder einfach abschlachten. Es ist, als seien die Pferde mit ihnen durchgegangen, als würde sie irgendetwas anstacheln. Es gibt keine sanftmütigen Riesen mehr. Selbst die Friedlichsten unter ihnen sind reizbar und haben schlechte Laune.«
»Hm. Das klingt nach einer ziemlich elenden Situation, wenn du mich fragst.«
»Und nicht nur das. Es gehen Gerüchte um, dass ihr König Ruhman in den verlorenen Landen seine Getreuen um sich sammelt.«
Gespannt sah ich den gealterten Prinzen an. »Aber zu welchen Zweck?«
»Wozu sammelt man seine Truppen, Deckard?«, stellte Leonhrak die rhetorische Frage. »Um irgendwem Ärger zu machen natürlich. Und wenn Ruhman sich nicht aus Spaß mit den Orks oder den Steppenvölkern auf dem Festland prügeln will, dann hat er es auf uns
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