Dorn: Roman (German Edition)
unsere Lia? Würden sie das Unrecht verurteilen, das Linus getan hat?«
Leonhrak wusste, worauf ich hinauswollte. »Oder würden sie es ausnutzen, dass das große Menschenreich zerschlagen daniederliegt und zurückerobern, was ihnen vor Hunderten von Jahren genommen wurde?«
Ich schlug der Faust auf das Geländer. Es tat weh. »Soweit darf es niemals kommen, Leonhrak. Hörst du? Soweit darf es niemals kommen!«
Wie flehend war der Blick in meinen Augen?
»Niemals«, bestätigte der Prinz sofort und legte mir die Hand auf die Schulter. »Wir sind doch ebenso Brüder – die Söhne großer Männer, die sich um das Wohl ihrer Leute sorgen.«
Einen Wimpernschlag lang herrschte Stille zwischen uns – ein Momente des absoluten Verstehens. Ja, im Geiste waren wir vielleicht tatsächlich so etwas wie Brüder.
»Komm!«, sagte er. »Vergiss deinen Kummer nur für diesen Abend!«
Seine Hand löste sich und er trank einen großen Schluck aus seinem Becher, bevor er sich wieder auf den Weg zurück in die Hölzerne Halle machte. Ich blieb noch eine Weile allein zurück und starrte in den kühlen Sommerabend hinaus. Der Met duftete verführerisch in meiner Nase.
Schließlich entschied ich mich gegen den Ausflug hinaus auf einen der Brecher und machte mich ebenfalls auf den Weg zurück in die Halle König Fjeldings.
Der König war es dann auch, der mir bedeutete, den Platz neben sich einzunehmen. Fjelding selbst sah wieder so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, nur, dass sein schwarzes Haar mittlerweile stark vom Grau durchwoben war und auf seinem Gesicht ein rauer Schatten lag. Die schwarze Krone saß jetzt wieder fest und stolz auf seinem Haupt. Im Reich war Fjelding stets als strenger aber guter Herrscher bekannt. Eine Eigenschaft, die er seinen Söhnen wohl ebenfalls anerzogen hatte – zumindest was Leonhrak betraf.
»Lieber Deckard«, sagte er laut, um über das allgemeine Stimmgewirr der Feuer hinweg verständlich zu bleiben. »Es ist schön, zu sehen, was für ein stattlicher Mann aus dir geworden ist. Mir ist zu Ohren gekommen, du wärst für dein Alter ein erstaunlich weiser Herrscher in Falkenberg.«
»Zur Zeit bin ich ein Niemand«, gab ich von mir. Mir war nicht danach, Höflichkeiten auszutauschen. Offenbar bemerkte auch Fjelding das, denn natürlich war er über meine Situation und die im Ehernen Reich bestens unterrichtet worden.
»Aber du kannst es jetzt ohnehin nicht ändern«, betonte der König.
»Ich brauche ein schnelles Schiff nach Quainmar, Fjelding!«, sagte ich drängend und setzte nach: »Nein, nicht ich brauche es. Vielmehr Lia, die tapfere Elbin, der du und dein Volk eure Genesung zu verdanken habt.«
Der König der Harjenner kratzte sich nachdenklich am Bart und starrte für einen Moment ins nächstgelegene Feuer.
»Ihr bekommt euer Schiff«, meinte er schließlich mit Bestimmtheit. »Du hast völlig recht, mittlerweile sind genug meiner Leute wieder geheilt von der Magie des Elbenprinzen. Es gibt keinen Grund, euch hier länger als nötig festzuhalten. Ihr bekommt die Skrara sowie genügend starke Männer, um sie so schnell wie möglich ans Ziel zu bringen.«
Dann fügte er hinzu: »Und Leonhrak bekommt ihr auch.«
Das war zuviel der Ehre. »Dein Sohn muss uns nicht begleiten, Fjelding. Du wirst ihn hier sicherlich brauchen.«
Der Blick des Königs traf mich. Seine Augen waren grau wie Schiefer und voller Scharfsinn. »Es ist mein Wille, dass er euch begleitet. Nicht nur aus Dankbarkeit für das, was ihr an unserem Volk getan habt. Nein, ich möchte außerdem die Beziehungen zu den Elben verbessern. Zwar schauen wir nicht so abfällig auf sie herab, wie ihr im Ehernen Reich es tut, aber Handelsreisende der Elben verirren sich nur selten zu uns. Ganz zu schweigen davon, dass wir wirklich gerne Freunde dort hätten.«
»Du willst dir Freunde bei den Elben machen?«, fragte ich verwirrt.
»Warum nicht? Diese tapfere kleine Elbin dort«, er zeigte mit dem Finger auf Lia, deren Haar im Tanz zu einem Skaldenlied wirbelte und im Schein des Feuers glänzte, »sie hat ganz allein das Wagnis aufgebracht, dieser schwarzen Magie ihres Bruders zu trotzen. Und zwar nicht, weil sie irgendjemandem von uns etwas schuldig gewesen wäre. Sie schuldet sicher keinem Menschen irgendetwas. Nein, sondern weil sie es schlicht und ergreifend für falsch hielt. Es war Unrecht, was ihr Bruder mit den Nollonin angerichtet hat.«
Daran stimmte jedes Wort. Und ich bewunderte den Mut und den Willen des
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