Dorn: Roman (German Edition)

halbes Dutzend Sommer jünger und stürmischer als sein Bruder, aber jene Form von Weitsicht, die einen guten Herrscher oder Kommandant ausmacht, legte auch er bisweilen schon an den Tag. Leider hatte ich bisher wenig Gelegenheit bekommen, mit ihm zu sprechen. Einige Wachen der Harjenner flankierten sie.
    Im Anschluss ritten Lemander und ich, ebenfalls geschützt durch kampferprobte Männer. Den Abschluss bildete Leonhrak, an dessen Seite Lia mit wehendem Haar ritt.
    Mit kräftigen Hornstößen bahnten uns die Nordmänner eine Passage durch die uns entgegenströmenden Menschen.
    Der König legte ein atemberaubendes Tempo vor und ich musste mich stark konzentrieren, um mitzuhalten, denn ich war lange Zeit nicht mehr so schnell geritten. Das Blut pulsierte überall in meinem Körper. Der Himmel kam mir grauer und der Sommer noch kälter vor, als es der Fall war.
    Die Straßen und Wege Tjaabus waren lange nicht mehr so überfüllt, wie es noch vor wenigen Tagen der Fall gewesen war. Überall sah ich Männer wie Frauen ihr wichtigstes Hab und Gut auf Planwagen und Ochsenkarren verladen. Die Harjenner verließen die Hafensiedlung beinahe panisch.
    Einige Nordmänner unter Waffen nahmen uns in Empfang. Wir banden die Pferde an und ließen einige Wachen zurück, bevor wir den Männern Tjaabus hinaus auf einen der breiten und langen Stege folgten, an dem ein großes Harjenner-Schiff lag.
    Die Riesen kamen mit einer Armada auf Jorhammer zu. Der Horizont war bedeckt von grobschlächtigen Schiffen und breiten Flößen jeder Art. Unförmige Segel trieben grob gezimmerte Fortbewegungsmittel langsam auf die Küste zu. Durch ihre schiere Größe waren die Flöße offensichtlich hochseetauglich, auch wenn sie natürlich mit der Geschwindigkeit der Harjenner-Schiffe nicht im Entferntesten mithalten konnten. Schließlich konnte ich auch vereinzelt die Gestalten der Riesen an Bord ausmachen. Noch erkannte ich nichts Genaues, aber sie schienen mir sehr schlank zu sein. Ich hatte mir Riesen stets als sehr große Menschen vorgestellt, aber ihr Körper war für ihre Größe eher feingliedrig. Nun, ich würde sicher bald mehr Riesen aus der Nähe zu sehen bekommen, als mir lieb war.
    Mich fröstelte wieder. Hatten Prinz und König vorhin noch versucht, mich aufzumuntern und mir die blasse Laune der Verlorenheit zumindest für den Moment von der Seele zu reden, erstickte das, was ich hier sah, jede Hoffnung im Keim. Eine Gewissheit machte sich leise, aber beharrlich in meinem Verstand breit: Jorhammer könnte der letzte Ort sein, den ich sah, bevor ich die sonnenlose Straße betrat.
    »Ich fürchte, wir müssen unseren Ausflug nach Quainmar verschieben«, plapperte Lemander neben mir. Sein unbekümmerter Plauderton ging mir auf die Nerven.
    »Das ist nicht komisch«, versetzte ich scharf.
    Lemander zuckte die Schultern. »Ich wünschte, das wäre es. Aber ganz ehrlich: Mit allzu schlechter Laune sollten wir das Ganze nicht angehen.«
    Ich blickte ihn verständnislos an: »Das Ganze angehen?«
    »Ernsthaftigkeit heißt nicht, dass man schlechte Laune haben muss«, meinte er bloß und drehte sich zu König Fjelding um. Hier und dort war Gemurmel unter den Männer zu hören. So tapfer die Nordleute auch waren: Ihnen stand der atemlose Schrecken ins Gesicht geschrieben.
    Leonhrak neben mir schnaubte: »Die Riesen sind so anders geworden. Früher waren sie ehrliche, sanftmütige Bewohner ihres Reiches. Ihnen wohnte eine gewisse Herzensruhe inne.«
    »Herzensruhe«, wiederholte ich grübelnd. Herzensruhe , was für ein schön gewähltes Wort. Es beschrieb gut, wie jemand trotz aller Umstände in sich ruhte und …
    … ich stockte. Mein Blick ging zu Lia hinüber.
    »Lia?«
    Sie sah zu mir herüber.
    »Könnte der Begriff Herzensruhe vielleicht das bezeichnen, was Linus den Riesen genommen haben könnte?«
    Sie antwortete nicht sofort. Ihr vertiefter Blick verriet mir, dass sie über das nachdachte, was ich von mir gegeben hatte.
    »Wenn man die Nollonin dazu gebrauchen kann, einem ganzen Volk sein Lebensalter zu nehmen«, sagte sie schließlich, »dann scheint es beinahe so, als könne man einem anderen Volk seine …. Herzensruhe nehmen. Ja, nenn es so. Warum nicht?«
    »Es scheint nur so?«, vergewisserte ich mich.
    »Ich habe keine allzu genaue Kenntnis davon, wie die Nollonin funktionieren, das habe ich dir doch schon gesagt. Aber denkbar ist es meiner Meinung nach.«
    Herzensruhe. Herzensruhe. Das ließ mich nicht los. Wenn man die Riesen