Dornen der Leidenschaft
wurde an einen unattraktiven alten Mann verheiratet oder gezwungen, für immer in einem Kloster zu verschwinden. Es war ganz einfach kein Platz bei Hof für jene, die die Leichtlebigkeit und Frivolität Isabellas nicht teilten.
Aurora begutachtete sich in den großen Wandspiegeln, die dem Saal seinen Namen gegeben hatten. Das junge Mädchen dachte, daß sie etwas müde aussähe – sie hatte leichte Schatten unter den Augen –, aber abgesehen davon war sie mit ihrer Erscheinung zufrieden. Trotzdem war sie nervös und strich unnötigerweise ihr Haar und ihr Kleid glatt, als ob sie sichergehen wollte, daß der Spiegel sie nicht täuschte und daß alles in Ordnung war. Dann wandte sie sich vom Spiegel ab und trat durch die offenstehende Tür auf den kleinen Balkon.
Dort atmete sie tief die angenehm kühle Morgenluft ein. Es ging ein leichter Wind, den Aurora sehr genoß. Sie brach eine Rose von den Ranken, die an der Palastwand emporkletterten. Die Blüte duftete süß und vermischte sich mit dem Geruch der vielen anderen Blumen, die in dem gepflegten Park wuchsen. Als die Sonne höher stieg und es wärmer wurde, fühlte Aurora eine Mattigkeit, lehnte sich an die Balustrade und genoß die Sonnenstrahlen.
Bald würde die Hitze in der Ferne flimmern. Selbst jetzt schon wirkte die Landschaft jenseits des Parks leicht verschwommen. Sie blinzelte, um klarer sehen zu können, aber statt dessen wurde es schlimmer, und sie konnte immer weniger erkennen. Sie schwankte und hielt sich an der Balustrade fest, ohne aber die Rose loszulassen, die sie vorhin gepflückt hatte.
Der Mann kam wie immer, in Nebelschwingen eingehüllt. Aber diesmal fürchtete Aurora, über die Balustrade zu stürzen, und kämpfte, um das Bewußtsein nicht zu verlieren. Nachdem sie ein paarmal tief durchgeatmet hatte, konnte sie ihre Umgebung wieder klarer erkennen.
Sie bemerkte, daß alles ganz verändert war. Aranjuez war verschwunden, statt dessen sah sie eine alte Jagdhütte.
Irgendwo in der Ferne läutete leise eine Angelusglocke. »Querida, querida« .
Aurora wandte sich nach der Stimme um, die sie gerufen hatte. Da war er. Der Mann ihrer Träume. Er saß auf seinem weißen arabischen Hengst, lachte glücklich und trabte in Richtung des hölzernen Balkons, auf dem sie stand.
Direkt unterhalb des Balkons zügelte er sein Pferd und schaute zu ihr hoch. Eine plötzliche, überwältigende Sehnsucht – und noch etwas mehr – ergriff Aurora, als sie in sein dunkelhäutiges Gesicht blickte. Sie hatte ein solches Strahlen schon einmal gesehen, auf Basilios und Franciscas Gesichtern – in der Nacht, in der sie geheiratet hatten.
Auroras Herz begann wie wild zu schlagen. War es – war es möglich, daß der Mann sie liebte, genau so, wie sie ihn liebhatte? Hatte er sie deshalb all die Jahre besucht?
Er stieg ab, kletterte auf einen nahestehenden Baum und schwang sich über einen Ast zu ihr auf den Balkon herüber.
»Muñeca mía« ,murmelt er mit rauher Stimme. »Ich habe dich lange nicht mehr gesehen.«
Und dann küßte er sie.
Aurora scheute vor dieser intimen Berührung nicht zurück. Von den caballeros, die auf den Bällen mit ihr getanzt hatten, hatte sie sich immer so schnell wie möglich zurückgezogen. Aber jetzt hatte sie das Gefühl, als ob sein Mund, den ein schwarzes Bärtchen zierte, auf den ihren gehörte und daß sie seine Lippen schon lange kannte und liebte.
Nach ihm hatte sie sich ihr Leben lang gesehnt. Früher war sie unvollständig gewesen. Jetzt – jetzt war sie mehr als vollständig, denn gemeinsam erlebten sie etwas, was keiner von ihnen allein kennengelernt hätte.
Ihre Lippen öffneten sich willig, und sie erwiderte seinen leidenschaftlichen Kuß.
Aurora war kein Kind mehr, sondern eine Frau, die aus tiefstem Herzen liebte und wiedergeliebt wurde. Sie sehnte sich danach, daß dieser Augenblick nie vergehen würde. Wenn sie ihr gegenwärtiges Leben aufgeben müßte, um mit diesem Mann in der Vergangenheit leben zu können, dann würde sie sich dafür entscheiden. Kein Opfer kam ihr zu groß vor, wenn sie ihn nur immer bei sich haben könnte. Aurora mußte versuchen, ihm schnell ihre Gefühle mitzuteilen, bevor er sich wieder in Nebel hüllte und verschwand.
Als sie spürte, daß sich der Mann ihrer Umarmung entzog, füllten sich ihre Augen mit Tränen, und es schmerzte sie, so bald verlieren zu müssen, was sie gerade erst gefunden hatte. »Nein! Geh noch nicht weg!« bat sie leise.
»Ich muß fort, querida«
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