Dornen der Leidenschaft
Don Rafael, Visconde Torreon, gab es nicht mehr. Jetzt gab es nur noch El Lobo, den Banditen, den Jäger, den tollkühnen Mann, der immer dann die Gesetze übertrat, wenn es ihm nützte. Er würde herausfinden, wer dieser La Aguila war. Wenn ihm nicht gefiel, was er erfuhr, dann würde er den Mann töten, dem er gerade das Leben gerettet hatte.
Der Diener Pancho schlief, so wie nur ein Volltrunkener schlafen kann. Er lag auf einer Matte zu Füßen seines Herrn und schnarchte laut. Salvador war so erschöpft, daß er sich davon nicht stören ließ und rasch selbst in einen tiefen Schlaf fiel. Keiner der beiden wachte von den leisen Geräuschen am Fenster auf. Dort versuchte jemand im Dunkel der Nacht von außen das Fenster zu öffnen.
Schließlich hatte es der Mann, der nur als schwarzer Schatten zu erkennen war, geschafft. Er kletterte ins Zimmer und wußte genau, daß niemand sein Eindringen bemerkt hatte. Nach dem Tod seiner Eltern hatte El Lobo jahrelang bei einem Indianerstamm gelebt und viel gelernt. Er konnte sich lautlos annähern, auch ein hellwacher Mann würde nichts davon hören, und diese beiden Schläfer hatten es ihm wirklich nicht schwer gemacht.
Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnt hatten, schaute sich der Bandit um. Im Zimmer war es so stickig, daß es ihn wunderte, daß die Männer überhaupt noch Luft bekamen. El Lobo hatte sich darüber gewundert, daß das Fenster geschlossen war. Zweifellos hatten es die beiden Neuankömmlinge so sicherer gefunden.
Der Bandit packte den schlafenden Visconde so geschickt, daß er sich beim Aufwachen nicht bewegen konnte, und preßte ihm die Spitze eines Messers an die Gurgel.
»Keine Bewegung und keinen Ton«, flüsterte El Lobo. »Ich kann mit dem Messer genauso gut umgehen wie mit dem Revolver.«
»El Lobo«, flüsterte Salvador nach dem ersten Schreck erleichtert, achtete aber darauf, sich nicht zu bewegen, da er nicht im Sinn hatte, sich die Kehle aufschlitzen zu lassen.
»Ja«, sagte der Bandit. »Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen. Und überlegen Sie sich die Antwort gut, Aguila, sonst können Sie in Zukunft nur noch mit Ihrem Schöpfer sprechen.«
»Sie haben sich klar ausgedrückt, Señor«, antwortete der Visconde. »Aber wir können doch bestimmt wie zwei zivilisierte Menschen miteinander reden. Ich habe Sie heute genau beobachtet und bin sicher, daß Sie in Wirklichkeit nicht so wild und unerzogen sind, wie Sie sich geben.«
»Wirklich?«
»Ganz im Ernst, Lobo. Sie haben bestimmt einmal einer besseren Schicht angehört, sonst würden Sie die Manieren, die zu dieser Gesellschaft gehören, nicht so genau kennen.«
»Sie haben wirklich gute Nerven. Nun gut. Wir unterhalten uns wie zwei wohlerzogene Männer, vorausgesetzt, daß Sie mich nicht überrumpeln wollen.«
»Ich gebe Ihnen mein Wort.«
Langsam lockerte El Lobo seinen eisernen Griff, erhob sich und setzte sich vorsichtig auf einen Stuhl neben dem Bett. Salvador schob ebenso vorsichtig seine Zudecke zurück und setzte sich auf den Bettrand. Mit ruhigen Händen zündete er eine Lampe an und schnitt den Docht so weit ab, daß nur eine kleine Flamme brannte.
»Möchten Sie etwas trinken?« fragte er. »Ich fürchte, ich habe keinen Meskal, aber es muß noch Whisky hier sein.«
El Lobo nickte.
Der Visconde erhob sich, ging vorsichtig durch das Zimmer, um Pancho nicht zu wecken, und holte die Flasche und zwei Gläser. Er schenkte ein und prostete seinem nächtlichen Besucher zu. Dabei dachte er darüber nach, wie es wohl zu dem merkwürdigen Vertrauen zwischen ihnen gekommen war. Der Bandit war ins Hotel Placido gekommen, um ihn zu töten. Aber seine Haltung hatte El Lobo Respekt abgenötigt. Und was Salvador anging – er fürchtete den Banditen nicht. Er war nur neugierig auf den Mann. Nachdem sie getrunken und er die Gläser wieder nachgefüllt hatte, sagte Salvador: »Ich hatte recht. Ich habe heute etwas gesagt, was Sie so durcheinandergebracht hat, Lobo, daß Sie mir gefolgt und jetzt hier eingebrochen sind, um mich zu verhören.«
Lobos Augen blitzten auf. »Sie sind nicht nur gelassen, sondern auch klug«, meinte er. »Ich halte Sie allmählich wirklich für einen Dämon.«
»Der gekommen ist, um Sie heimzusuchen, Señor?« fragte der Visconde.
»Und eine schnelle Auffassungsgabe haben Sie auch. Ich schätze Sie von Minute zu Minute höher ein, Aguila. Ja, Sie sind ein Gespenst, ein Gespenst aus meiner Vergangenheit. Und ich möchte wissen, was
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