Dornenkuss - Roman
zeigen. Warnend reckte die Schlange ihren Kopf, verborgen unter meinen langen Haaren. »Eines deiner Augen sieht immer ein klein wenig woandershin, heckt immer etwas aus.«
»Wenigstens können sie sehen.«
Ich hob instinktiv meine Arme, weil ich plötzlich an den Moment denken musste, in dem meine Augen damit begonnen hatten zu sehen – zu sehen, wer ich wirklich war und was mein Herz wollte. Ich hatte mich an einen klitschnassen Felsen geklammert, unter mir ein tosender Bach, über mir ein Höllengewitter, während die Pfade meines bisherigen Lebens im Schlamm versanken, und hatte darauf gewartet, dass das Schicksal mir die härtesten Prüfungen meines Lebens schicken würde. Weil ich den Mann liebte, der mich retten und zugleich ins Verderben leiten würde, jenen Mann, der nun zu meiner Linken durch das glimmende Unterholz brach und in seiner Hand einen brennenden Ast hielt, genau wie Tillmann zu meiner Rechten. Meine Ritter waren gekommen.
Ich nahm meine Arme noch ein bisschen höher und spreizte meine Finger. Ich wollte ihre Fackeln haben. Sie mussten sie mir geben.
Nur das knisternde Zischen in der Luft verriet mir, dass sie sie geworfen hatten, beide im selben Augenblick, ohne sich abgestimmt zu haben. Sie wussten nicht, wozu ich sie brauchte. Ich wusste es selbst noch nicht. Ich fühlte nur, dass ich sie haben musste, und mein Wunsch war ihr Befehl. Ich fing die brennenden Äste sicher auf, bewegte sie aber nicht.
Angelo reckte seinen Kopf nach vorne, dann seine Hand, die mich packen und das vollenden wollte, was ich ihm versprochen hatte. Doch die Schlange war schneller. Mit gebleckten Zähnen schnellte sie unter meinen Locken hervor, die lang über meine nackten Brüste fielen, und biss ihn in die Unterlippe. Überrascht fuhr er zurück, um sich mit dem Zeigefinger auf die Verletzung zu tippen, ein letztes Überbleibsel seines Menschseins und eine durch und durch fehlerhafte Reaktion. Ihr Gift konnte ihm doch gar nichts tun.
Das konnte allein ich. Mit meiner geballten Kraft, geschaffen von meiner schwelenden Wut und meiner Trauer, stieß ich ihm die rechte Fackel in sein linkes Auge, dann die linke in sein rechtes. Aug um Aug, Zahn um Zahn. Sofort roch es beißend nach verbranntem Fleisch. Schrill kreischend fiel Angelo auf seine Knie und begann mit fliegenden Fingern, den Boden abzutasten, als könne er seine Augen dort finden und einsetzen, ein hilfloses, blindes Bündel, das nie wieder sehen und nie wieder das nehmen konnte, was andere als Geheimnis ihrer Seele in ihrem Blick trugen. Auf allen vieren robbte er im Kreis, während sein Speichel in dünnen Fäden aus seinem offenen Mund lief und zischend auf dem heißen Boden verdunstete. Er brach in ein hohles, irres Lachen aus, als er merkte, dass seine Suche keinen Sinn hatte.
»Du bist so dumm, Elisabeth, so dumm … Du willst lieber ihn, ja? Ihn? Diesen lächerlichen Affen, der glaubte, wie ein Mensch sein zu können?« Er wollte mit fuchtelnden Bewegungen auf Colin zeigen, während dieser eisern versuchte, Louis auf der Stelle zu halten, obwohl der Hengst unentwegt tänzelte und weißer Schaum aus seinem kauenden Maul troff. Doch Angelo hatte die Orientierung verloren. Ohne die Menschen war er nichts mehr. Sein Finger deutete ins Nirgendwo. »Du willst ihn ?«
»Ich will vor allem mich.«
»Du weißt es, oder? Du weißt, dass ich deinen Vater getötet habe? Oh Ellie, sei nicht so kleinlich, du hast selbst unter ihm gelitten, er war doch nie da für dich, hat dich jahrelang belogen, er hat dir sogar Angst eingejagt …«
»Überaus praktisch für deine Pläne, nicht wahr? Du weißt nichts, Angelo, gar nichts, und du hast es auch dann nicht gewusst, als du noch ein Mensch warst. Du warst immer ein armseliges Würmchen. Du hast es nicht verdient, uns zu sehen.«
Wieder lachte er. Seine Zähne hatten sich gelb verfärbt. »Du bist so dumm!«, wiederholte er. »Colin wird dich nicht mehr wollen! Er kann dich nicht wollen, nachdem du das zerstört hast, was seine Familie war, die einzige, die er je hatte: seine Mutter und seinen Bruder! Das will er doch unbedingt haben, eine Familie!«
»Seinen Bruder?« Noch immer hielt ich meine Fackeln erhoben, bereit, ein weiteres Mal zuzuschlagen, falls seine Augen sich neu bilden würden. Doch das taten sie nicht. »Seinen Bruder?«
Angelo verrenkte den Kopf, um mich anzusehen, eine eintrainierte Geste, die ihm nun nichts mehr nützte. Leere, verbrannte Höhlen glotzten mich an.
»Du – hast –
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