Dornenkuss
ungesunden Schwall durch die Luft. Louis’ Augen verdrehten sich, bis man das Weiße in ihnen sehen konnte. Selbst Colin musste geduckt seinen schweren Hufen ausweichen, als der Hengst sich auf seine Hinterbeine erhob und die Vorderläufe durch die Luft wirbeln ließ. Sein Strick wurde zum Zerreißen gespannt, schnitt dabei tief in seinen Hals, doch der Schmerz konnte seine Raserei nicht mäßigen.
Auch Gianna war das Glas aus den Händen gerutscht und vor ihren nackten Füßen zerplatzt. In einer schaumigen roten Lache ergoss sich das Getränk über den Steinboden. Sofort wuselten Termiten aus seinen Fugen, um sich an der blutig schimmernden Flüssigkeit zu laben, eine schwarze Armee, die über unsere Füße wimmelte und ein stechendes Prickeln auf unserer Haut hinterließ.
Die Zikaden setzten ihr Lied fort, leiser, gespenstischer, in schrägen, misstönenden Harmonien, als würden sie nicht für sich, sondern für jemand anderen singen. Sie spielten zu unserem Todestanz auf.
Während Colin erbittert mit Louis kämpfte und ihn zu beruhigen versuchte, drehte Gianna sich zu mir um, die Hand auf ihren Bauch gepresst, das Gesicht kreidebleich. Sie rang darum zu sprechen, vielleicht dachte sie, wenn wir miteinander redeten, würde der Spuk sich auflösen und alles wieder so sein wie vorher.
Doch sie schaffte es nicht. Stattdessen beugte sie sich würgend über die Brüstung und übergab sich ins Rosenbeet. Mit energischen Schritten kam Colin zu uns und nahm mich zur Seite, ohne sich um die kotzende Gianna zu kümmern.
»So, mein Fräulein, jetzt hast du ja erreicht, was du wolltest. Gratulation. Ihr beide geht ins Haus und dort bleibt ihr auch, verstanden? Sobald ich den Stall verbarrikadiert habe und Louis in Sicherheit ist, bringe ich euch weg und dann …«
»Das wirst du nicht! Colin, nein …«
Ich wand meinen Arm mit einer einzigen kratzbürstigen Bewegung aus seinen kühlen Fingern, die sich wie Klauen anfühlten. Colin trat einen lautlosen Schritt auf mich zu, bis mein Gesicht in seinem Schatten lag. Es kam mir vor, als habe die Welt sich verdunkelt. Vielleicht hatte sie sich das sogar.
»Elisabeth, du glaubst doch nicht im Ernst, ich lasse dich und deine Freunde gegen Tessa antreten? Ich habe deiner Mutter versprochen, dich nach Hause zu bringen, sobald du in Gefahr gerätst, und nun ist dieser Zeitpunkt gekommen.«
»Meine Mutter? Ich bin erwachsen, meine Mutter hat mir nichts mehr zu befehlen und du mir auch nicht!« Er hatte sich mit meiner Mutter abgestimmt? Das war ja ungeheuerlich. Und es erklärte, warum sie uns ohne großartige Gegenwehr hatte ziehen lassen. Colin hatte dahintergesteckt!
»Du leidest unter Hybris, das habe ich dir schon einmal gesagt. Tessa ist mein Schicksal, mein Fluch, und ich dulde nicht, dass andere sich dem Tod aussetzen, indem sie sich einmischen.«
»Ach, darum geht es hier also?«, fauchte ich. »Um männlichen Stolz, ja? Falls du es vergessen hast: Ich habe auch meinen Stolz!«
Wendig schwang ich mich auf das Geländer, sprang hinunter und rannte auf den tänzelnden und steigenden Louis zu. Natürlich hätte Colin mich aufhalten können, er hatte weitaus bessere Reaktionen als ich und Schwerkraft und Zeit zählten für ihn nicht, doch er tat es nicht, weil ich dabei gestürzt wäre oder mir wehgetan hätte. Das war mein Vorteil. Den musste ich nutzen.
Obwohl sich meine alte Angst vor Louis angesichts seiner fliegenden Hufe und seines wilden Tanzes um die eigene Achse in ungeahnte Höhen schraubte, lief ich an ihm vorbei und drückte mich in den kleinen Spalt zwischen ihm und dem Stall. Ich hatte mich selbst eingekesselt. Ich hob meine Hände und krümmte meine Finger zu Raubtierkrallen, die ich in drohenden Bewegungen durch die Luft kreisen ließ. Pferde fürchteten Raubtiere, aber Louis liebte Colin und fühlte sich bei ihm und bei seinem Stall in Sicherheit. Außerdem wollte er ihn verteidigen. Er würde hier weiterhin den Affen machen und seine Hufe würden mein Leben gefährden, wenn Colin versuchen würde, mich dort hinten herauszuholen. Das hoffte ich jedenfalls.
Colin näherte sich uns lautlos und bedächtig, aber ich konnte den Zorn in seinen Augen tosen sehen. Obwohl es noch hell war, hatte sich ihre Iris schwarz verfärbt. So wütend hatte ich ihn selten erlebt, vielleicht sogar noch nie.
Louis reagierte, wie ich es erhofft hatte. Er wollte seinen Herrn vor mir beschützen und fürchtete sich gleichzeitig vor mir, sodass er meine eigene innere Aufruhr
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