Dornenkuss
wie Prometheus, jeden Tag fliegt ein Adler heran und pickt mir ein Stück meiner Leber heraus, während ich gefesselt bin und mich nicht dagegen wehren kann, und nachts wächst es nach, damit er es sich wieder holen kann … und diese Qual endet nie … Sie ist für die Ewigkeit bestimmt und sie wird schlimmer. Mein Hunger wird schlimmer. Oder hast du das nicht bemerkt?«
Ich sah ihn nur durch einen Tränenschleier, eine weiße schwammige Maske mit zwei schwarzen, gähnend tiefen Löchern darin, die mich in sich hineinsogen.
»Sie ist doch jetzt tot … wir sind frei …«, flüsterte ich.
»Ich bin niemals frei. Im Westerwald hatte ich mir wenigstens etwas geschaffen, was man mit gutem Willen Leben nennen konnte. Ich hatte ein Haus, obwohl ich es nicht brauchte, doch ich hatte ein Haus, mein Eigentum und selbst hergerichtet, ein Haus für meine Katzen und Louis und sogar für Besucher, wenn es denn mal so weit kam. Ich ließ mir eine Küche einrichten und stattete die Zimmer so aus, wie ich mir das für ein würdiges Menschendasein vorstellte. Ich hatte einen Beruf, der mir Freude machte, und ein Studium, bei dem die Chancen gut standen, dass ich es beendete. Eines von so vielen …«
Meine Augen liefen über und die Tränen tropften warm auf meine nackten Knie. Ja, auch ich hatte dieses Haus geliebt und Geborgenheit in ihm gefunden … Wie Fotos aus längst vergangener Zeit streiften mich die Erinnerungen: die Bilder auf dem Kaminsims, die Katzen auf dem Sofa, der Kilt an der Wand. Das Bett mit dem samtenen weinroten Überwurf. Was war nur mit uns geschehen?
»Ich trat sogar einem Verein bei.« Colin lachte tonlos auf. »Ich habe Jugendlichen Karateunterricht gegeben. Viele mochten mich nicht, ach, die meisten mochten mich nicht, aber ab und zu konnte ich mich unter sie mischen. Ich habe mit Louis an Turnieren teilgenommen und Anerkennung für meine Leistungen erzielt. Es hat so gut funktioniert wie noch nie zuvor.«
»Und dann kam ich.«
»Ja, dann kamst du und mein Leben schien vollkommen zu werden«, bestätigte Colin ohne jeglichen Vorwurf. Er hörte sich sogar dankbar an. »Nach all diesen langen, erbärmlichen Jahren, von denen ich fast jedes auf der Flucht verbracht hatte, entdeckte mich ein Mädchen und brachte mich dazu zu vergessen, wer ich war. Ich empfand Glück, für ein paar Sekunden, die besser waren als sämtliche 158 Jahre davor. Ein schönes Ende für einen Roman, oder?« Er lächelte mich wehmütig an.
»Nein, ein Anfang …«, widersprach ich unter Tränen. Colin schüttelte den Kopf.
»Was jetzt anfängt, will niemand lesen. Niemand möchte ein solches Buch kaufen, einen solchen Film sehen. Mir ist nichts mehr geblieben als der Hunger, die Jagd und mein Pferd, das irgendwann sterben wird. Und ich möchte nicht, dass sich bei dir wiederholt, was sich bei allen anderen zutrug. Dazu liebe ich dich zu sehr, als meinen besten Freund und als Frau. Ich habe dir das schon einmal gesagt, Ellie. Ich will nicht, dass du mich fürchtest …«
»Ich würde ein solches Buch lesen wollen, lieber als jede Schnulze dieser Welt, und ich werde dich nicht fürchten!«
»Du tust es doch schon, immer wieder.«
»Aber das bedeutet nicht, dass ich dich nicht mag!«
Wieder lächelte Colin, so traurig und sicher, dass er mit allem, was er sagte, recht hatte. »Auch andere Frauen mochten mich, Lassie. Du bist nicht die erste. Aber irgendwann überlagert die Furcht die Zuneigung. Glaube es mir, ich habe es gesehen. Es ist der natürliche Weg. Nur du kannst mir, kannst uns helfen, ihn nicht zu beschreiten. Vielleicht ist es anmaßend und egoistisch, aber ich möchte jemand sein, an den du dich in Liebe erinnerst und nicht in Hass und Angst. Denn Hass und Angst begleiten mich, seitdem ich geboren wurde.«
Ich presste mir die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien. Ich hatte nie zuvor realisiert, dass unsere Liebe Colins Leben zerstört hatte – und wenn es nur Mimikry gewesen war, nur eine Nachahmung. Zu keinem anderen Zeitpunkt war er den Menschen so nahe gekommen und hatte so ähnlich wie sie gelebt.
»Warum isst du meine Tränen nicht mehr?« Ich musste diese Frage stellen, denn in seinem Haus war es das erste Mal geschehen und in letzter Zeit gar nicht mehr.
»Weil ich sie hervorrufe. Du weinst sie wegen mir.«
Ich öffnete meine Lippen und ließ eine von ihnen auf meine Zungenspitze perlen. Sie schmeckte salzig, wie alle Tränen, salzig und schwerer als Wasser. Nun lehnte auch Colin sie ab. Niemand
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