Dornenkuss
mehr hatte etwas davon, wenn ich weinte.
»Ich möchte dich nur bitten, darüber nachzudenken, ehrlich und mit ganzem Herzen darüber nachzudenken, so wie du es mir versprochen hast. Mehr nicht.«
Mehr nicht? Es war schon viel zu viel, dies von mir zu verlangen. Ich hatte flüchtig damit angefangen, nachdem mir klar geworden war, dass ich nicht von der Pest befallen war, zunächst sogar mit scheuer Hoffnung, denn bei Tessa war zumindest etwas übrig geblieben. Ein erbärmlich kranker, alter Mensch. Aber Colin war nie ein Mensch gewesen. Er war ein Cambion, von Beginn an dämonisch und zum Rauben geschaffen. Als ich das erkannte, hatte ich meine Überlegungen sofort aus meinem Gehirn verbannt. Doch nun holten sie mich ein. Was würde bei ihm geschehen? Würde gar nichts von ihm bleiben? Auch jetzt war es mir nicht möglich, mich mit diesem Gedanken zu befassen. Ich würde es mein Leben lang nicht verwinden können, wenn es nicht einmal einen Leichnam geben würde, den ich bestatten konnte.
»Dass bei Tessa ein Mensch blieb, heißt nicht, dass bei dir auch einer bleiben würde«, wandte ich trotzdem ein. »Denn du … du warst nie einer, oder? Es ist ein zu hohes Risiko!«
»Nein, das ist es nicht. Denn ich würde niemals so enden wollen wie sie. Jämmerlich krepieren, ohne zu verstehen, was mit mir geschieht. Und das würde ich auch nicht. Ich habe sie gesehen, als sie krank war … Sie war nur ein Mensch. Das war ich zu keinem einzigen Zeitpunkt meines Lebens. Es wäre gut, wenn nichts bleibt.«
Er schätzte es genauso ein wie ich … Nichts würde bleiben? Gar nichts? War er denn auch vor Tessas Heimsuchung bereits derart dämonisch gewesen? Sie hatte ihn im Leib seiner Mutter befallen und in den ersten zwanzig Jahren seines Lebens hatte er nicht gewusst, wozu er bestimmt worden war. Doch alle um ihn herum hatten ihn abgelehnt und ihn gefürchtet, weil sie das Dämonische in ihm spürten. Ich erinnerte mich an meine Visionen, in denen ich ihn als Säugling gesehen hatte. Diese schimmernden Perlenaugen … Menschliche Babys hatten keine solch wachen, wissenden Augen. Und nun machte ihm dieser Gedanke sogar Mut, es zu tun. Er wollte gar nicht, dass etwas von ihm blieb. Warum nicht? Warum wollte er nicht bleiben?
»Tu es, solange du mich noch liebst, Lassie, denn danach hat es keinen Sinn mehr«, brach Colins Stimme durch meine panischen Überlegungen und gab ihnen neue Nahrung. »Du kennst die Formel doch noch, oder?«
Ich musste Zeit schinden, Zeit, in der ich mir eine andere Lösung ausdenken konnte, und ich musste es ehrlich und respektvoll tun, sonst würde er es nicht dulden. Ich hatte einen furchtbaren Fehler begangen, ihm dieses Versprechen leichtfertig zu geben. Er hatte mich beim Wort genommen. Ich hätte besser verhandeln sollen.
»Colin, bitte hör mir zu, wie ich dir zugehört habe. Als Freund«. begann ich und musste sofort wieder Luft holen, damit meine Worte nicht zu schwach und dünn klangen. Das Weinen aber konnte ich nicht verhindern. »Ich habe heute Morgen meinen Bruder gebeten, mir ein bisschen Zeit zu geben, bevor ich mich auf die Suche nach unserem Vater mache. Denn ich kann nicht mehr. Ich bin ausgelaugt. Ich hatte geschwollene Lymphknoten und Fieber, fast eine Woche lang, ich dachte, ich muss sterben. Das hat mich all meine Kraft gekostet, weil ich niemandem davon erzählt habe, ich konnte nicht … Und die anderen haben mich gemieden, als hätte ich schon die Pest. Ich brauche ein bisschen Zeit, in der ich nicht nachdenken muss, nicht entscheiden und planen und erneut mein Leben oder meine Freunde aufs Spiel setzen, Zeit, in der ich keine Experimente mit meinem Körper anstelle oder Morde aushecke. Und das gilt auch für dich.«
Colins Mundwinkel vertieften sich, der Hauch eines Schmunzeins, doch seine Augen erwiderten meine Angst und meine Vorahnung von tiefer, alles verschlingender Trauer.
»Und dann hältst du ein Plauderstündchen mit einem dir völlig unbekannten Mahr?«
»Es war reiner Zufall! Ich hab mich in diese Straße zurückgezogen, weil … weil mir Gianna auf die Nerven ging«, schwindelte ich, darauf bauend, dass Colin den wahren Grund nicht erraten würde. Meine Grischa-Geschichte war mir ihm gegenüber schon immer ein wenig peinlich gewesen. »Und dann war er plötzlich da, doch wir haben nur wenige Sekunden miteinander gesprochen – ich hatte übrigens eine Heidenangst! – und du bist aufgetaucht. Selbst wenn er mir sofort gesagt hätte, wo Papa ist, würde ich
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