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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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besessen, doch ich kannte ihn auswendig. High Hopes von Pink Floyd, der Lieblingsband meines Vaters. Er hatte das Lied oft gespielt, wenn Paul und ich mal wieder außer Rand und Band geraten waren, damit es uns besänftigte, oder aber um mich aufzumuntern, wenn ich blass und verweint aus der Schule zurückgekehrt war. Es passte ja auch, dachte ich verbittert, während ich den Kloß in meiner Kehle hinunterzuschlucken versuchte. Überhöhte Hoffnungen waren es gewesen, von denen ich immer wieder enttäuscht worden war und die mich hierhergetrieben hatten … Und nun konnte ich nicht umhin, mich wie ein kleines Mädchen zu fühlen, das sich nach seinem Vater sehnte, Papa mit seiner unerschütterlichen, charismatischen Ausstrahlung, ein Fels in der Brandung, dazu diese göttlich schöne Musik. Wie nur sollte ich ohne ihn leben?
    »Oh, sorry … schlechte Erinnerungen, oder? An diesen Typen?« Angelo griff nach vorne und wollte den Aus-Knopf drücken, doch ich ging dazwischen. Kurz berührten sich unsere Hände. Beide warm und gesund.
    »Nein, lass es, es ist okay«, widersprach ich tapfer. Lieber wollte ich es mir anhören und dabei kaputtgehen, als es zu unterbrechen. An der nächsten Ausweichbucht stoppte Angelo den Wagen und schaltete den Motor aus. Nichts störte mehr die Musik und meine Trauer. Diskret verließ er den Alfa, lief ein paar Schritte von mir weg, um mich mit meinen Gedanken alleine zu lassen, eine Geste der Höflichkeit, nicht des Desinteresses.
    Ich blieb sitzen, einige Atemzüge lang, in denen ich anklagend, aber auch voller Liebe an das zurückdachte, was mein Vater mir gegeben und beschert hatte. Ein Leben abseits der anderen, ein Leben, in dem mich auf Schritt und Tritt das Gefühl begleitet hatte, dass etwas mit mir nicht stimmte. Nie war ich auf die Idee gekommen, dass mit meinem Vater etwas nicht stimmte. Er war mir unfehlbar erschienen. Und jetzt war er fort.
    Ich holte tief Luft, wischte die salzige Nässe von meinen Wangen und stieg ebenfalls aus. Angelo stand am Abgrund, den Blick in die Ferne gerichtet, die Hände wie vorhin in den hinteren Hosentaschen. Sein dünnes Shirt flatterte an seinem schmalen Körper.
    Es war tröstend, jemanden wie ihn zu sehen und zu ihm hingehen zu dürfen, ohne Scheu und Angst, abgewiesen zu werden. Er würde mich nicht umarmen und meine Tränen trocknen; ich hätte es ohnehin zu verhindern gewusst. Aber immerhin konnte ich neben ihm stehen und diesen Blick hinab in die Täler und auf das ferne Meer mit ihm teilen, um uns herum das Zirpen der Grillen und die Musik, der ich gar nicht mehr entrinnen wollte. Nein, ich wollte sie neu besetzen. Nun würde ich nicht mehr nur an Papa denken, wenn ich sie hörte, sondern auch daran, wie ich mit Angelo in den Bergen stand und dem nahe kam, was immerzu unerreichbar gewesen war. Für den Augenblick genügte es mir. Mehr brauchte ich nicht. Wir sagten nichts, hörten nur zu, bis der letzte Ton verklungen war.
    Es war früher Abend, als wir Longobucco erreichten, ein etwas größeres Dorf an einem Felsen. Die Anfahrt war ein Erlebnis: links unter uns ein gigantisches ausgedörrtes Flussbett, das erahnen ließ, wie gnadenlos sich die Wassermassen im Herbst und Frühjahr ihren Weg bahnten, Spuren von gewaltigen Erdrutschen zwischen den Bäumen, deren Wurzeln teilweise im Freien hingen und die Last des Stammes mit letzter Kraft hielten. Es sah aus, als habe hier ein Riese gewütet. Angelo erzählte, dass Dörfer wie Longobucco während des Winters oft eingeschneit würden. Es konnte bitterkalt werden hier oben. Auch jetzt war es spürbar kühler als zu dieser Tageszeit am Meer. Ich nahm den weichen, leichten Pulli, den Angelo mir reichte, dankbar an, um ihn über meine nackten Schultern zu legen, als wir in der Pizzeria Platz nahmen.
    Angelo hatte nicht zu viel versprochen; die Pizza war ein Frontalangriff auf meine Geschmacksknospen, sie schienen vor Wonne zu explodieren, als ich hineinbiss. Mit der Serviette wischte ich mir einen Tropfen Olivenöl vom Kinn. Ich wusste, dass ich wieder starrte, aber es war mir unmöglich wegzuschauen, wenn Angelo die Pizza schnitt und sich die Stücke genießerisch in den Mund schob.
    Jetzt ließ er die Gabel sinken. »Ellie, ich kann so nicht essen. Du machst mich nervös.«
    »’schulligung«, mümmelte ich und schluckte. »Es ist nur so … ich … wie verdaust du die Pizza eigentlich?«, fragte ich wissbegierig. Ich musste das endlich erfahren. Colin hatte mich nie in die Geheimnisse

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