Dornenkuss
leugnen, dass es absolut miese Typen unter uns gibt, aber es gibt auch miese Menschen und vielleicht hat dein Vater geglaubt, er könne Besseres bewirken, wenn er sich für eine Seite entscheidet und nicht ständig Kraft aufwenden muss, um dagegen anzukämpfen. Vielleicht wartet er nur darauf, dass du es akzeptieren könntest. Nein, denk drüber nach, bevor du mir die Augen auskratzt. Ich wollte dich nicht beleidigen oder verletzen, es ist nur ein Gedanke, nur eine Idee, es heißt lange nicht, dass er es getan hat. Ich weiß, dass manche Halbblüter diesen Schritt gegangen sind. Oh Mist, was hab ich jetzt wieder angerichtet …«
»Nichts«, sagte ich kalt, obwohl in mir das Feuer loderte. Zu keiner Sekunde wäre ich von allein auf diese abenteuerliche Idee gekommen, doch ihre Logik war bestechend. Papa hatte sich in einem ständigen Kampf mit sich selbst befunden, hatte immer wieder von uns weggehen müssen, um seiner eigenen Frau nichts anzutun. Dazu seine ständigen Konstitutionsschwierigkeiten, die »Migräne«, seine Lichtempfindlichkeit, die Unmöglichkeit, auch nur irgendetwas Normales mit uns zu unternehmen. Es war absurd, aber Angelo wirkte auf mich viel normaler, als mein eigener Vater es jemals getan hatte. Das war nicht fair, doch es war die Wahrheit. Und gleichzeitig war es ein willkommener Gedanke, dass Papa da draußen als Mahr auf mich wartete und hoffte, dass ich sein Handeln verstehen konnte, weil ich mit einem von ihnen zusammen war.
Vielleicht sah ich wirklich nur Schwarz und Weiß. Oh ja, Menschen konnten böse sein, sehr sogar. Was Colin im Lager erlebt hatte, war von Menschenhand erschaffen worden; ein technisierter Massenmord, kaltblütig und berechnend bis zur Unfassbarkeit. Sie hatten es Endlösung genannt. War das nicht um Längen grausamer, als Menschen ihrer Träume zu berauben?
»Das eine Übel macht das andere nicht wett«, sagte ich, was mir in den Sinn kam, als ich beide Seiten gegeneinander abwog. »Nur weil Menschen schlecht sein können, heißt das nicht, dass es gut ist, Träume zu rauben.«
»Ja, da stimme ich dir zu«, entgegnete Angelo ruhig und beinahe ein bisschen traurig. »Aber wir sind nun mal auf sie angewiesen.«
Nicht auf Menschenträume, dachte ich naseweis. Ich hätte noch weiterdiskutieren können, viele Stunden, doch Angelo stand auf und ging zur Theke, um zu zahlen. Er wollte mich nach Hause bringen, bevor die anderen sich Sorgen machten. Vielleicht musste er in Wirklichkeit jagen gehen, diesen Mechanismus kannte ich ja nun.
Trotz der Pizza in meinem Bauch und des Tiramisus, das wir uns anschließend genießerisch wie zwei Naschkatzen geteilt hatten, wurde mir bei der Fahrt durch die Berge hinab zum Meer nicht übel. Ich lehnte meinen Kopf zurück, schloss die Augen und jauchzte vor Wohlsein leise auf, als nach einigen Minuten sanfter italienischer Musik jenes englischsprachige Lied ertönte, das Angelo in der Pianobar gespielt hatte.
»Here I go out to sea again, the sunshine fills my hair and dreams hang in the air …«
Ich sah ihn am Klavier, den Kopf gesenkt, die Hände auf den Tasten … so selbstvergessen … Wie schön, dass er neben mir saß, während die Bilder zurückkehrten, auch wenn er mich eben furchtbar wütend gemacht hatte. Er hatte es nicht tun wollen.
»Gulls in the sky and in my blue eyes. You know it feels unfair, there’s magic everywhere. «
Neue, unbekannte Bilder tauchten vor meinen geschlossenen Augen auf … und wieder Angelo … dazu das Meer … so blau.
»Surfst du? Du bist Surfer, oder?«, fragte ich, meine Stimme voll und rauchig.
»Manchmal, ja. Ja, ich surfe … gerne sogar …«
»Ich kann dich sehen. Ich sehe dich. Du tanzt auf dem Wasser …« Er spielte mit den Wellen, sprang vom Brett ab, die Hände noch am Segel, ließ seine bloßen Füße durch die Gischt gleiten, sprang wieder auf, hob mit dem Segel in die Luft ab, wirbelte um sich selbst. Schwerelos.
»Bis bald«, sagte er, als ich ausstieg.
»Bis bald«, sagte auch ich, obwohl ich fürchtete, dass es nicht stimmte. Doch vorerst hatte ich genügend Traumstoff, um ein oder zwei Tage damit füllen zu können. Die mussten sie mir lassen.
Sie waren ausgegangen, das Haus empfing mich leer. Ich hatte nichts dagegen. Ich brauchte mein Reich, in allen Räumen. Ich setzte mich auf die Terrasse, vor mir ein Glas Rotwein, die nackten Beine auf die Brüstung gelegt, und fühlte, wie ich langsam losließ. Es war alles möglich. Auch dass Papa ein Mahr geworden war.
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