Dornenkuss
Ich glaubte es noch nicht, aber es war möglich.
Ich musste mir Zeit geben, um darüber nachzudenken. Zu überlegen, was die nächsten Schritte sein konnten. Doch zunächst war es klüger, nichts zu tun.
Ich wurde nicht müde. Ich ging nur zu Bett, weil ich mich auf meine Träume freute. Denn nun tat es nicht mehr weh, aus ihnen zu erwachen.
BAUCHGRIMMEN
»Was ist denn da unten los?« Ich konnte nicht verhindern, dass ich ein wenig gereizt klang. Ich hatte mich gerade erst auf den Balkon des Dachbodens gesetzt, wie ich es nun jeden Abend tat, denn ich hatte festgestellt, wie friedlich dieser Platz war, wenn man ganz ruhig und ohne sich zu rühren in der Ecke lehnte und dem Treiben der Fledermäuse um sich herum zusah. Anfangs hatte ich noch Musik dabei gehört, jetzt brauchte ich sie nicht mehr, der Ultraschallradar der Tiere erzeugte viel schönere Melodien. Manchmal streiften mich ihre Schwingen beinahe. Ich wartete auf den Moment, in dem es wirklich geschehen würde.
Doch Fledermäuse mochten Lärm und Aufruhr nicht, ebenso wenig wie ich. Kaum waren die Stimmen im Garten laut geworden, hatten sie sich zerstreut und waren nur noch als kleine, schwalbenähnliche Schatten weit über mir zu erkennen. Ich wollte sie aber in meiner Nähe haben.
»Komm doch mal runter, Elisa, bitte!«, rief Gianna zu mir hoch. »Es ist dringend!«
Dringend. Was konnte jetzt, um diese Uhrzeit und nach einem solch verschwenderisch langen, heißen Tag, dringend sein? Der Abwasch? Termiten? Wieder einmal die Schlange im Duschbecken? Gianna hatte sie eines Mittags entdeckt und von Paul gefordert, sie mit dem Spaten in zwei Teile zu hacken, aber glücklicherweise hatte Paul sich geweigert. Ich hätte es ihm sowieso verboten. Die Schlange tat niemandem etwas. Außerdem verschwand sie, wenn man in die Hände klatschte, und das würde Gianna hoffentlich noch fertigbringen.
Aber wenn die Schlange da war, musste ich dazwischengehen, bevor Gianna selbst den Spaten schwang. Das traute ich ihr durchaus zu. Seufzend erhob ich mich und huschte die Treppe hinunter. Ich fand Gianna auf dem Absatz vor der Tür, die von der Küche in den Garten führte. Sie klammerte sich mit den Händen am Geländer fest, wie an jenem Tag, als Tessa gekommen war. Und sie sah ähnlich zerstört aus wie damals. Irgendetwas hatte sie restlos aufgewühlt.
Doch das wahre Geschehen spielte sich im Garten ab.
»Seit wann ist er hier?«, fragte ich überrascht.
»Oh Ellie, das ist doch jetzt egal …«, sagte Gianna unwirsch. Ihre Stimme zitterte. »Louis ist krank! Er hat eine Kolik und …«
»Und?« Ich wagte einen ausführlicheren Blick. Louis stand mit stumpfem Blick und hängendem Kopf im Schatten, ein Ausdruck hoffungsloser Agonie. Ich hatte ihn nie zuvor in einer solch miserablen Verfassung gesehen. Normalerweise schien sein Fell vor unterdrückter Energie zu vibrieren. Doch nun war er ein Bild des Jammers. Colin tastete gerade seinen geblähten Bauch ab und legte immer wieder sein Ohr an das Fell, um zu lauschen.
»Siehst du das nicht?«, rief Gianna und deutete auf Colin. Sie kam mir latent hysterisch vor, aber ich unterließ es, ihr beruhigend die Hand aufzulegen; das wollte sie ja nicht. »Man kann ihn kaum ansprechen, dazu seine Augen, seine Augen! Er ist zornig vor Angst und ich schaffe es nicht, zu ihm hinzugehen, ich schaffe es nicht, ich weiß, es ist feige, aber es geht nicht …« Sprach sie von Louis oder Colin? Ich konnte ihr nicht ganz folgen.
»Colin!«, rief Gianna zu ihm hinüber. Wieso brüllte sie so? Sie musste nicht schreien, er verstand jedes Wort, das sie sagte. »Colin, es tut mir leid, ich kann nicht zu dir, aber Ellie ist jetzt da.«
»Was willst du denn auch machen?«, fragte ich Gianna sachlich. Anscheinend fürchtete sie Colin und nicht Louis. Warum konnte sie nicht zu ihm gehen? Er wirkte angespannt, aber ruhig. Es gab weder Grund, vor ihm Angst zu haben, noch Grund, übermäßig besorgt zu sein. »Du kannst Louis doch gar nicht helfen.«
»Louis nicht, aber vielleicht Colin«, wimmerte sie. »Oh, ich bin so feige …«
Colin ließ Louis allein, um ein paar Schritte auf uns zuzugehen. Okay, ich musste mich korrigieren. Gianna hatte sich nicht geirrt. Seine Bewegungen waren kontrolliert, doch seine Augen hatten eine fast krankhafte Trübe angenommen. Sumpfiges, ausgezehrtes Schwarz, das einen in die Tiefe saugen wollte. Auch meine Nackenhaare stellten sich auf, als ich ihn sah.
»Hast du ihm irgendetwas zu fressen gegeben,
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