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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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blass und steif in ihren Sitzen, angeschnallt.
    Neuer Versuch.
    Ich hasste das panische Schweigen um uns herum, Schweigen, obwohl jeder kreischen und heulen wollte, sie alle hatten Todesangst, sogar ich, ein lange antrainiertes Verhaltensmuster meines Körpers. Ich hätte ihn dafür prügeln können, dafür und weil er es richtig machte, ich war sterblich, wie die anderen hier, noch war ich es.
    So schrie auch ich auf, plötzlich wieder hellwach und im Chor mit all den Verliebten, als die Räder der Maschine polternd auf der Landebahn ins Schleudern gerieten, sich aber sofort wieder fingen, »No danger at all«, dann zog der Pilot die Bremsen, kein Rauch, keine Flammen, nur ein unsanftes, schlingerndes Halten zu weit hinten auf der Bahn, was aber kein Problem war. Alles unter Kontrolle.
    Ich war die Erste, die sich erhob und an die Tür stellte; die anderen klebten noch reglos an ihren Lehnen, ihre Münder dümmlich geöffnet. Nachher würden sie sich gegenseitig von ihrem Abenteuer erzählen und sich toll dabei finden, obwohl sie insgeheim schon den Rückflug fürchteten und sich wünschten, diese Reise nie gebucht zu haben. Ich beeilte mich, bevor ich wieder müde werden konnte.
    Der Flughafen war klein; nur eine große Halle, zweistöckig. Keine Schlange am Einreiseschalter, sie winkten mich durch, ohne Notiz von mir zu nehmen. Draußen Wind und trockene Hitze. Ich fand sie erfrischend. Vorbei an den Bussen der Touristen und uniformierten Reisebegleitern, die mit ihren Fähnchen in der Abendsonne standen, bis ich die Taxis erreichte. Ich hatte während des Fluges in einem Prospekt über die Insel geblättert, das im Netz des Sitzes geklemmt hatte, und darin gelesen – eine Sisyphusarbeit, weil meine ausgetrockneten Augen von den eng gedruckten Zeilen abrutschten und sich verirrten. Ich musste wie ein Erstklässler meinen Finger unter den Buchstaben entlangfahren lassen, doch ich verstand genug, um zu wissen, dass ich an die Nordspitze der Insel gelangen musste. Nach Oia.
    Oia war laut Prospekt eine kleine Künstlerstadt, eher ruhig und verträumt, aber beliebtes Ausflugsziel für die Touristen und Kreuzfahrer, die stundenweise in Scharen über die Gassen herfielen, dazu ein Ort der Verliebten, meistens Hochzeitsreisende – ein ideales Jagdrevier, an dem es ständig frische Nahrung gab und trotzdem genügend Abgeschiedenheit herrschte, um sich vor den Menschen zu verbergen. Wenn es richtig war hierherzureisen, weil es der Sache diente, dann würde ich den Anrufer dort finden. Ich musste ihn dort finden.
    Aber wo in Oia – wo genau? Da ich kein Hotel hatte, ließ mich der Taxifahrer am Ortseingang aussteigen, Autos waren ab hier verboten, die Gässchen ohnehin zu schmal dafür. Ich hatte keinen Sinn und keine Zeit für die Schönheiten des Städtchens, vor denen die Touristen fotografierend stehen blieben und mir den Weg versperrten, ja, es war ganz hübsch, bunt getünchte Mauern zwischen weißen Häusern, die das klare helle Licht paradoxerweise weicher werden ließen, anstatt mich zu blenden, dazwischen Kirchen, ebenfalls weiß, mit blauen Dachkuppeln und im Wind taumelnden Glocken.
    Mein Kiefer knackte, als ich mich gähnend über eine Mauer beugte, um hinabzusehen. Das Meer lag weit unter mir, Hunderte von Metern, es war zu weit weg, doch ich musste zu ihm. Bevor ich irgendetwas unternahm, musste ich schwimmen, untertauchen, mich mit Wasser umgeben. Es war sowieso irrsinnig, allein nach dem Anrufer zu suchen. Ich verwarf mein Vorhaben wieder, fand es erneut idiotisch und unreif. Ohne Angelo konnte ich den Anrufer nicht suchen, das durfte ich nicht. Ich musste im Meer baden, mich abkühlen und wach werden, anschließend würde ich Angelo kontaktieren, dann auf ihn warten. Aber erst musste ich baden. Wie kam ich ans Meer?
    Weil ich mich nicht mehr aus eigener Kraft orientieren konnte, folgte ich einem Mann mit einem Esel, der in eine verwinkelte Seitengasse abbog, irgendwo musste es einen Weg zum Meer geben, auch wenn die Küste noch so steil war. Ich brauchte nicht lange, um den Pfad zu finden, der Mann mit dem Esel leitete mich dorthin. Im Zickzack ging es hinunter, breite, unregelmäßige Stufen zwischen bröckelnden Mauern und grobem schwarzbraunem Fels. Den Eselstreiber hatte ich bald hinter mir gelassen, das Wasser rückte näher, Schritt für Schritt. Doch einen Strand gab es nicht; ich sah es von Weitem. Die Wellen klatschten direkt gegen die Steine, Steine auch unter Wasser und die See so bewegt, dass

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