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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Hinterkopf zugewandt, doch das Gesicht der Frau konnte ich sehen. Ja, der bittere Beigeschmack, der mir den Appetit verdarb, stammte von ihr. Schwelende Angst und Unruhe durchwanderten ihren Schlaf. Sie witterte etwas, was sie nicht zuordnen konnte, schon die ganze Zeit tat sie es, seit sie mit ihm zusammen war, obwohl doch alles so harmonisch und perfekt schien. Er sah gut aus, war intelligent, absolvierte eine mustergültige Ausbildung, er würde Karriere machen und gutes Geld verdienen, wahrscheinlich besaß er sogar Vaterqualitäten. Er war ein rücksichtsvoller Liebhaber und machte ihr ab und zu Geschenke. Sie liebte sein jungenhaftes, verschmitztes Lächeln und das Spiel seiner dunklen Haare, sie sah ihn gerne nackt und wollte ihm nahe sein, doch wann immer sie ihn im Schlaf berührte oder zu tief in seine Augen sah, hatte sie das Gefühl, einem Fremden zu begegnen, der ihr Unheil brachte. Trotzdem war sie süchtig nach ihm. Auch jetzt berührten sich ihre Hände und kurz darauf ihre Träume, ihre Gedanken wurden eins, trennten sich wieder und ein angstvolles Stöhnen übertönte ihren gehetzten Atem. Ihre Lider zuckten.
    »Dreh dich zu mir um, Christian«, sagte ich mit der vollen Kraft meiner Gedanken. Er gehorchte sofort, schlafend. Ich ging in die Knie, um sein Gesicht ansehen zu können, in aller Ruhe und so nah, wie ich es früher nie gedurft hatte. Er war älter geworden. Um seine Augen bildeten sich die ersten dünnen Fältchen; Spuren des Lebens, die man beim flüchtigen Betrachten niemals erkennen konnte, die sich aber von Jahr zu Jahr vertiefen würden. Seine Stirn war etwas höher geworden und seine Lippen schmaler. Er war noch immer ein außergewöhnlich gut aussehender junger Mann, doch ich fragte mich, wo der Zauber geblieben war, dem ich jedes Mal, wenn ich ihn angeschaut hatte, wie in einer wehmütigen Trance erlegen war.
    Grischa Schönfeld, das heimliche Topmodel unserer Schule – nicht nur ich hatte das so empfunden, ich war eine von vielen gewesen. Schön, schöner, Schönfeld. Für mich war er sogar mehr gewesen als das. Ich konnte ihn nicht abhaken wie die anderen. Er war immer bei mir geblieben. Und jetzt … ein ganz normaler Mann, der schlief, seinen Kopf auf den braun gebrannten Unterarm gebettet, eine dunkle Strähne über den Augen, den Mund leicht geöffnet. Kein himmlisches Antlitz, sondern ein rein menschliches, fehlerhaftes und auch fehlbares Antlitz.
    »Was war es?«, fragte ich ihn wispernd. »Was hat mich all die Jahre an dich gebunden? Warum fühlte ich mich dir so nahe? Warum wollte ich immerzu bei dir sein?«
    Ich musste nicht fürchten, dass meine Worte ihn weckten. Er hörte sie nicht, und selbst wenn er sie hörte, machte es keinen Unterschied – er würde mich nicht sehen und sie für einen Traum halten. Er sah mich nicht; es war nie anders gewesen.
    Ich streckte meine Hand aus und legte sie um seine Wange, die warm und kalt meine Haut berührte. Warm und kalt? Wie konnte das sein? Mit den Fingerspitzen schob ich seine Lider nach oben. Tot und leer blickten seine schlafenden Augen mich an, nur für einen Herzschlag, bis sie mich erkannten und mit einem Male ihre Farbe wechselten, wie wenn jemand einen Schalter angeknipst hätte. Ein blaues Schimmern breitete sich in ihnen aus, blautürkis, und verlieh dem Braun ungeahnte Tiefe und ein irisierendes Glitzern. Sein Mund wurde voller und weicher, die Haut blühender, sein Ausdruck jugendlicher, als würde sich ein anderes Gesicht unter seinen Zügen erheben und sie vergehen lassen. Blitzschnell riss ich meinen Blick von ihm los und barg seinen Kopf mit beiden Armen an meiner Brust, dicht an meinem Herzen.
    »Das bist nicht du!«, flüsterte ich in sein Ohr. »Es ist jemand anderes und ich werde dafür sorgen, dass er verschwindet. Ich verspreche es dir! Das bist nicht du, hörst du?«
    Ich gab ihn wieder frei und ließ ihn zurück ins Kissen sinken, wo seine Lider herabfielen und er sich endgültig seinen Träumen überließ. Auch seine Freundin war ruhiger geworden. Ein Lächeln kräuselte ihre blassen Lippen. Für eine kurze Nacht hatte ich ihnen Frieden geschenkt.
    Ich stürzte aus dem Zimmer, rannte mit geflügelten Schritten über den Hof, durch die ausgestorbene dunkle Stadt und die Stufen hinunter zum Meer, bevor Angelo bemerken konnte, was ich gesehen hatte.
    Ich rannte um mein Leben.

AUSERWÄHLT
    »Hat er mich gesehen? Weiß er, dass ich es weiß?«, rief ich, sobald ich die Höhle erreicht hatte. Wenn Angelo

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