Dornenkuss
es wusste, war es sowieso egal, ob ich schrie oder nicht. Ich musste den Gefühlen, die in mir tobten, Luft machen. Ich verstand nichts mehr; ich wusste nur, dass Grischa mit hineingezogen worden war, von Beginn an. »Wieso ist er in ihm drin, warum?«
»Also ist es wahr …«, sagte Morpheus wie zu sich selbst.
Er saß an der gleichen Stelle und in der gleichen Haltung auf dem Boden der kahlen Höhle, wie ich ihn gestern angetroffen hatte. Vermutlich sah so sein Leben aus, seit Hunderten von Jahren. Er saß in dieser Höhle, in der es nichts gab und von der aus man nichts sehen konnte als die Wellen, die gegen die Felsen schlugen, und stieg nur ab und zu hinauf in die Stadt, um sich zu ernähren. Das war alles. Doch er hatte mich nicht zufällig durch die Gassen Oias geschickt. Er hatte eine Ahnung gehabt, dass ich etwas finden würde. Und deshalb musste er mir Rede und Antwort stehen.
»Wird er jetzt kommen und mich holen, weil ich es entdeckt habe? Was ist überhaupt geschehen? Hallo, kannst du mir mal bitte antworten?!« Meinen letzten Satz brüllte ich so laut, dass mein eigener Schall in meinen Ohren schepperte. Die Höhle war zu klein für meine Stimme. Morpheus reagierte nicht. Ich wollte ihn an den Schultern packen und schütteln, doch mein Respekt hielt mich davon ab.
In Ordnung, er dachte lieber nach, anstatt zu antworten, beschwichtige ich mich gehetzt atmend. Deshalb ging ich optimistisch davon aus, dass Angelo nicht auf dem Weg zu uns war. Aber was hatte all das dann zu bedeuten? Seine Ausstrahlung, sein Charisma und seine Schönheit – jene Dinge, die mich an beiden gereizt und geschwächt hatten – zeigten sich in Grischas Gesicht, wenn er mich erblickte! Wie konnte das sein?
Weil die Höhle zu begrenzt war, um darin auf und ab zu laufen, lehnte ich die Stirn an den rauen, kalten Fels und schlug meine flachen Hände rhythmisch gegen das Gestein, um meine Gedanken besser kanalisieren zu können. Es war alles viel abartiger und verkommener, als ich geahnt hatte.
»Er war immer da, oder? Er hat mich seit meiner Jugend beobachtet, ist das richtig? Und er hat Grischa benutzt, damit ich mich erst unglücklich und hoffnungslos in ihn verliebe und es später wie eine Erlösung empfinde, wenn ich jemandem begegne, der so ist wie er? Jemandem, der mich wahrnimmt?«
Denn genau das war passiert. Nur deshalb hatte Angelo eine solche Macht über mich erlangen können. Weil seine Gegenwart den Schmerz, den Grischas Unerreichbarkeit in mir ausgelöst hatte, zu heilen schien. Grischa war zu keinem Zeitpunkt meiner elendigen und einsamen Jugend der gewesen, als den ich ihn wahrgenommen hatte. Wenn ich ihn ansah, erblickte ich etwas, was ihm selbst nicht bewusst war, was er niemals hätte sein können. Angelo hatte ihn unterwandert.
Endlich ließ Morpheus seinen rauschenden Atem abflachen, um mir zu antworten.
»Er hat dich auf ihn geprägt. Diesen dunkelhaarigen Jungen mit den schrägen Augen, oder?« Morpheus richtete seinen wasserhellen Blick auf mich. Offenbar hatte er mich blindlings in die Nacht geschickt und darauf gehofft, dass ich das Richtige tun und entdecken würde. Irgendwie typisch Mahr. Schnaubend hieb ich einen losen Stein von der Wand. Er zerbröselte noch im Fallen.
»Ja. Ja, er ging auf meine Schule und ich habe ihn das erste Mal bewusst wahrgenommen, als ich vierzehn war und er mich grundlos sekundenlang angesehen hat, direkt in meine Augen, absolut grundlos …« Ich brach ab. Von wegen grundlos. Nichts war grundlos gewesen, auch nicht dieser Blick, doch er hatte keine Verbindung zwischen ihm und mir schaffen können. Nur zwischen mir und Angelo. Grischa hatte selbst nicht gewusst, warum er mich angesehen hatte. Ich hatte ihn schon vorher registriert, als blendend schönen Oberstufenschüler, aber nach diesem Moment, in dem meine Welt stillgestanden hatte, wusste ich, dass ich ihn niemals würde vergessen können. Nicht er hatte mich angesehen. Angelo hatte mich angesehen.
»Ist etwa ein Teil von ihm in Grischa drin? Aber wie soll das denn gehen …« Es war zu absurd.
»Nein.« Morpheus schüttelte sacht den Kopf. »Das kann auch Angelo nicht. Er muss ihn eines Nachts heimgesucht haben und ihm dabei die Essenz einiger schöner, jugendlicher Träume eingeflößt haben, die immer dann aufleuchten, wenn ihn jemand anschaut, der sich nach diesen Träumen sehnt und dem etwas in seinem Leben fehlt. Der Junge wirkt dann, als könne er sie erfüllen und alles gutmachen, was im Argen liegt. Er
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