Dornenkuss
ich jetzt hören würde. Fragend blickte ich Morpheus an. Doch er lächelte, als würde er sich freuen, von ihm zu hören.
»Ach, Colin, der junge Cambion mit dem Pferd?« Na ja, jung war relativ. »Wie dein Vater der Einzige seiner Art.«
Ich hielt den Atem an. Colin war der einzige Cambion? Es gab keinen anderen? Morpheus’ Lächeln vertiefte sich.
»Ja. Viele Mahre haben versucht, sich einen Gefährten zu erschaffen und sein Dasein von der ersten Sekunde an zu bestimmen, doch dazu bedarf es nicht nur großer Macht, sondern auch eines großen Schmerzes.«
Ich schloss für einen Moment die Augen, um diese neuen Erkenntnisse sacken zu lassen. Was hatte Paul gesagt? Tessa sei schwanger gewesen und habe stümperhaft abgetrieben, mehrmals? Vielleicht sei sie auch dazu gezwungen worden? Es bedurfte eines großen Schmerzes …
»Colin ist der einzige Cambion unter den Mahren und auch der einzige Zufall in diesem Spiel. So geplant und unglückselig seine Zeugung auch war, so schicksalhaft und glücklich ist eure Begegnung gewesen.«
Unter »glücklich« hatte ich mir zwar immer etwas anderes vorgestellt, aber trotzdem ließen mich Morpheus’ Worte erzittern. Colins und meine Beziehung war zerstört, das wusste ich, aber dass unsere Begegnung reines Kismet gewesen war, erschien mir wie ein Fels in der Brandung. Daran konnte ich mich für eine kleine Weile festklammern, um dem Sturm meiner zornigen Fragen standhalten zu können. Wir hatten uns gefunden und verliebt, von ganz allein, ohne das Zutun anderer – so, wie es sein sollte.
»War er dabei, auf den Felsen, als mein Vater getötet wurde?«
»Nein.«
Erneut lief ein Zittern durch meinen Körper. Mein Ausatmen glich einem Stoßseufzer. Colin war nicht dabei gewesen. Auch diese Antwort verlieh mir Halt. Es gab für mich keinen Grund, Morpheus nicht zu glauben. So wie er durch mich hindurchsehen konnte, konnte ich auch durch ihn sehen – nicht weil ich die Fähigkeit dazu hatte, sondern weil er es mir gestattete. Seine Gedanken waren für mich ein offenes Buch. Deshalb fühlte ich auch das väterliche Schmunzeln in seinen Worten und Erinnerungen, wenn er von Colin sprach. Aber genauso deutlich spürte ich eine umsichtige, stille Achtung, wenn er von mir sprach. Er wusste etwas von mir und über mich, was mir selbst verborgen geblieben war, und ich hatte Angst, es zu erfahren. Ich musste es jedoch erfahren, um zu verstehen, warum Angelo es auf mich abgesehen und unsere ganze Familie beeinflusst hatte mit seinen gerissenen Winkelzügen. Ich konnte mich davor nicht verstecken. Ich hatte mich nicht im Spiegel ansehen wollen und fand auch nicht den Mut, mein Gesicht abzutasten, selbst meine Haare wollte ich nicht berühren, doch ich konnte nicht länger vor der Wahrheit weglaufen.
»Was ist es?« Meine Stimme war nur noch ein Hauchen, das sich knisternd an den Wänden der Höhle brach. »Was hat ihn gelockt?«
Morpheus wartete, bis ich mich vor ihn kniete und ihn ansah. Dann ergriff er meine Hände, um sie in seinen Schoß zu ziehen und festzuhalten, als rechne er damit, dass ich davonstürzen würde, sobald ich es erfuhr. Das durfte ich nicht. Es hatte auch keinerlei Sinn. Man konnte vor sich selbst nicht fliehen.
»Hast du dir nie überlegt, wie wir entstanden sind?«
»Doch«, erwiderte ich prompt. »Aber das ist so ähnlich, wie sich zu überlegen, wo das Universum endet. Daran habe ich auch keinen Spaß. Adam und Eva werden es wohl nicht gewesen sein, oder?« Meine Ironie war unangebracht, aber ich wollte endlich wissen, was es mit mir auf sich hatte, und keine ungebetene Schulstunde absolvieren.
»Menschen werden zu Mahren verwandelt, das weiß ich«, ratterte ich trotzdem artig mein knappes Wissen herunter, als Morpheus sein Schweigen ausdehnte. »Ein Mahr fällt einen Menschen an und leitet die Metamorphose ein, um einen neuen Mahr zu schaffen, oder aber er ist so ausgehungert, dass es versehentlich geschieht. Richtig? Gut, richtig, ich sehe schon. Aber dann muss es irgendwann einen ersten Mahr gegeben haben. Den Urmahr sozusagen. Er hat mit dem ganzen Blödsinn angefangen.«
Wieder spiegelte sich das Meer in Morpheus’ Augen, obwohl die Nacht stockfinster geworden war. Eigentlich hätte ich sie gar nicht mehr sehen und erst recht keine Farbe in ihnen erkennen dürfen. Sein tiefer Blick vervielfachte meine Angst.
»Es gibt Archetypen. Einer von ihnen war der erste. Es gab sie damals und es gibt sie heute. Es sind wenige. Sie tragen es in sich. Es
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