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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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weiß selbst nicht, warum das so ist. Es wird ihm deshalb nie jemand wahrhaftig nahe sein können, weil die Menschen seine Gegenwart nicht wegen seiner selbst suchen, sondern wegen all dessen, was sie fälschlicherweise in ihm ahnen und erhoffen, obwohl es gar nicht aus ihm rührt.«
    »Eine Projektionsfläche. Grischa ist eine Projektionsfläche.« Ich musste diese nüchtern-wissenschaftliche Umschreibung wählen, um nicht den Verstand zu verlieren. Es war absolut logisch, es erklärte vieles, beinahe alles – aber es erklärte nicht, warum Angelo das getan hatte. »Sie galt mir, oder? Ich sollte darauf hereinfallen?«
    Wieder nickte Morpheus. »Ja. Du. Und niemand sonst. Die anderen Opfer kümmern ihn nicht. Der Knabe selbst kümmert ihn ebenfalls nicht. Ein Mittel zum Zweck, mehr nicht.«
    Nichts war Zufall gewesen, sondern alles durchdacht und geplant. Vorhin hatte ich noch die vage Hoffnung gehegt, dass Angelo mich vielleicht doch schlichtweg hatte kennenlernen wollen, aus Neugierde, und dabei keinerlei moralische Zweifel verspürte, weil Mahre nun mal keine moralischen Zweifel kannten und ihnen Elternliebe sowieso kein Begriff war. Jetzt wusste ich, dass einzig sein Spieltrieb ihn dazu gebracht hatte, mein Leben zu begleiten, zu prägen und zu manipulieren. Was von alldem in den letzten Jahren war überhaupt zufällig passiert?
    »Aber wieso? Was habe ich ihm getan? Ich bin doch nicht einmal ein Halbblut! – Ich bin kein Halbblut, oder?«, vergewisserte ich mich. Papa hatte behauptet, dass nichts auf mich übergegangen sei, und Colin hatte es nie bestritten. Aber wem konnte ich noch glauben?
    »Nein. Nein, mein Kind, das bist du nicht.«
    »Aber was ist es dann? Was gab ihm den Grund, all das zu tun? Genügte es nicht, meinen Vater zu töten?«
    Plötzlich keimte ein neuer schrecklicher Verdacht in mir auf. François … Pauls Befall. Mir war das schon immer ein wenig zu schicksalhaft vorgekommen. Mein eigener Bruder wurde von einem Mahr befallen, ausgerechnet von einem Wandelgänger, der jede Nische und jeden Winkel seines Daseins besetzte, um ihn bei allem, was er tat, kontrollieren zu können. Ich hatte anfangs geglaubt, dass es ein Rachefeldzug Tessas gewesen sei, doch diese Theorie hatten sowohl Colin als auch ich bald verworfen und ich hatte mich damit abzufinden versucht, dass es ein besonders makaberer Zufall gewesen war. War es nicht. Angelo musste ihn geschickt haben.
    »François Later. Mein Bruder wurde von einem Wandelgänger befallen. Auch organisiert von Angelo, oder?«
    Morpheus widersprach nicht. Also war es möglich. Und wahrscheinlich wusste Angelo, dass wir François bekämpft und raubunfähig gemacht hatten, denn Paul war mit mir in der Pianobar gewesen, sichtlich munterer als noch im Winter und mit einer jungen Frau an seiner Seite.
    »Dieses dreckige, stinkende Stück Aas …«, knurrte ich. »Was habe ich ihm getan, dass er all diese Verbrechen begangen hat? Was? Sag es mir, du weißt es!«
    In Morpheus’ hellen Augen schien das Meer gemächlich auf- und abzubranden, als er sie mir zuwandte. Es besänftigte mich ein wenig.
    »Es zählt nicht, was du getan hast. Sondern das, was du tun könntest und wozu du in der Lage wärest.«
    »Was ich …?« Meinte er, dass ich irgendwann die Nachfolge meines Vaters übernehmen würde? Danke, die Lust dazu war mir gerade endgültig vergangen und ich hatte niemals ernsthaft darüber nachgedacht; weder über Papas noch über Dr. Sands Bitte, der mich ebenfalls für seine Nachfolge auserkoren hatte, wenngleich diese wesentlich ungefährlicher sein würde. Außerdem …
    »Nein«, beantwortete ich meine Frage selbst. »Das kann es nicht sein. Das konnte er nicht ahnen, als ich vierzehn war. Ich wusste doch noch gar nichts von den Mahren, das habe ich erst im vergangenen Sommer erfahren!« Und wenn ich Colin nicht begegnet wäre, hätte ich es nie erfahren. Oh nein – nein … Colin … auch kein Zufall? Sondern eine weitere Intrige? Hatte Angelo Colin in mein Leben geschickt, damit die beiden guter Cop, böser Cop spielen konnten? Erst sollte Colin mich in Angst und Schrecken versetzen und mir Schaden zufügen, damit Angelo mit seiner vermeintlich reinen Weste ordentlich Eindruck schinden konnte? Hatte Colin wissentlich mitgespielt oder es ebenso wenig bemerkt wie ich?
    »Colin … bitte nicht auch Colin.«
    Ich nahm die Hände von der Wand und legte sie auf meine Wangen, bis nur noch meine Augen frei waren. Ich musste mich vor dem schützen, was

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