Dornenkuss
gibt zwei Varianten dieser Archetypen. Die einen haben zu wenig Gefühle, sind innerlich ausgedörrt und entscheiden sich irgendwann, Gefühle zu rauben, um wieder empfinden und erleben zu können.«
»Und die anderen?«, flüsterte ich.
»Die anderen haben zu viele Gefühle – Wut, Zorn, Neid, Angst, Sehnsucht, Mitleid, Wehmut, Liebe, Trauer – und halten sie nicht mehr aus. Deshalb beschließen sie, sie zu vergessen, sich selbst auszuhungern und nur noch die Gefühle anderer Menschen einzusaugen, wohldosiert und kalkuliert. Für beide Archetypen ist es lediglich eine Frage der persönlichen Entscheidung, Mensch zu bleiben oder Mahr zu werden. Es genügt oft, Nähe zu einem Mahr zu suchen, sich auf das andere Leben einzulassen und gegen sich selbst zu entscheiden. – Was glaubst du, mein Kind? Aus welchem Archetyp rühren die grausamsten, gierigsten und mächtigsten aller Mahre?«
Ich musste nicht lange überlegen. »Aus jenen Menschen, die zu viele Gefühle haben.«
Zu viele Gefühle, nicht zu wenig. Wie ich. Weil sie die Kontrolle über sich verloren, wenn sie raubten, da irgendetwas in ihnen sich die Intensität der eigenen Emotionen zurückwünschte, obwohl sie ihnen verhasst gewesen war, und die Träume und Empfindungen anderer Wesen selbst nach einem noch so brutalen Raub nie das ersetzen konnten, was einst aus ihrer eigenen Seele entstanden war. Sie waren niemals satt, niemals zufrieden, immer getrieben, auf ewig.
»Es bedarf nur einer Entscheidung?«
»Für dich, ja.« Morpheus bewegte seine Lippen nicht mehr; unsere Körper hatten wieder ihren Einklang gefunden, sodass er nicht sprechen musste, damit ich ihn hören konnte. Vielleicht lag es gar nicht an ihm, dass das so war. Vielleicht lag es an mir. »Eine einzige klare Entscheidung, die vollkommene Hingabe an einen Mahr, der dich auf seine Seite ziehen möchte, dein Ja zur Unsterblichkeit und der Weg zurück ist verschlossen. Wenn die Menschlichkeit einmal verloren ist, ist es unmöglich, sie wiederzuerlangen.«
Bei mir war es beinahe so weit gekommen. Ich hatte bereits vergessen, dass ich Vater und Mutter hatte, ich hatte meine Freunde vergessen, ich hatte Colin vergessen. Oder war es schon so weit gewesen? War es bereits geschehen?
»Gibt es für mich noch eine Umkehr?« Nun war ich froh, dass Morpheus meine Hände in seinen hielt und ich ihn bei mir fühlte. »Kann ich mich überhaupt noch entscheiden?«
»Du hast dich entschieden, indem du hierhergekommen bist. Und du hast dich vorher entschieden, immer wieder.«
Ja, das hatte ich. Wie Wolken zogen die Erinnerungen an meine Entscheidungen vorüber. Ich hatte mich entschieden, zu Colin zu stehen, als mein Vater mich unter Druck gesetzt hatte. Ich hatte mich entschieden, unser aller Leben und meine Liebe zu riskieren, indem ich Colin in dem Kampf gegen François antreten ließ. Ich hatte mich entschieden, nach Trischen zurückzukehren und mich meinen Erinnerungen zu stellen. Ich hatte mich entschieden, Tessa das letzte Antibiotikum zu verabreichen, obwohl ich selbst möglicherweise sterbenskrank war. Aber meine Entscheidung hierherzukommen war dem Gedanken entsprungen, dass der Anruf etwas mit der Metamorphose zu tun hatte. Betreten senkte ich meine Lider. Ich hatte mich in diesem Augenblick nicht einmal entsinnen können, dass Morpheus mich schon zwei Mal angerufen hatte, immer nachts, und ich seine Stimme eigentlich kannte. Und doch – als Angelo plötzlich hinter mir gestanden hatte, war mir unwohl geworden, ohne dass ich den Grund dafür hätte erraten können. Die Schlange aber hatte mein Unbehagen gespürt. Sie hatte mich dazu gebracht, ihn nicht länger im Haus zu dulden. Und ich wiederum hatte auf die Schlange gehört. Keine Gedanken mehr, nur noch schwache, unreflektierte Intuition.
»Es kann sein, dass er von deinen Träumen gekostet hat in den vergangenen Tagen und Wochen«, durchdrangen Morpheus’ Überlegungen mein eingeschüchtertes Schweigen.
»Nein, das hat er nicht«, entgegnete ich entschieden. Ich hatte nicht mehr geschlafen, obwohl ich es nicht beschlossen hatte, es war geschehen, ohne mein Zutun. Er hatte es gar nicht tun können. Auch tagsüber und während unserer nächtlichen Streifzüge war es nicht geschehen. Immerhin, Colins Erinnerungsraub hatte seine guten Seiten: Durch dieses Erlebnis wusste ich, wie es sich anfühlte, wenn es begann. Es verlangte nach einer Nähe, die Angelo und ich nie geteilt hatten, nach der ich mich aber ständig gesehnt hatte. Und
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