Dornenkuss
aller Wahrscheinlichkeit nach hatte ihn diese Sehnsucht nur noch angeheizt. Doch beeinflusst hatte er mich zweifellos in irgendeiner Weise. Das konnten Mahre, selbst wenn man wach war.
Angewidert presste ich die Lippen zusammen, angewidert nicht nur von ihm, sondern vor allem von mir selbst. Ich war ein Archetyp, eine Auserwählte. Es hätte kein Blut fließen müssen, um es zu vollziehen. Kein Schmerz wäre notwendig gewesen. Nur mein Wille, aus dem Diesseits zu scheiden. Ohne dass Morpheus es angedeutet oder gar ausgesprochen hatte, wusste ich, was er mir hatte sagen wollen: Es bedurfte einer Entscheidung und Hingabe, ja, körperlicher Nähe. Ich hätte mit Angelo schlafen müssen. Darauf hatte er gewartet. Dass ich darum bettelte. Und dann wäre er dabei in meine Seele eingedrungen und hätte es vollendet. Ich hätte es nicht einmal gemerkt.
»Was ist mit Colin?«, lenkte ich mich von meinem jähen Selbsthass ab. »Er war nie ein Mensch …«
»Er war nie ein Mensch. Er sollte nie ein Mensch sein können. Genau darin offenbaren sich seine Zähigkeit und seine Stärke. Er hatte keine Möglichkeit, sich zu entscheiden, und doch wehrt er sich erbittert gegen sein Schicksal, jeden Tag aufs Neue. Das lässt ihn für die Mahre so unberechenbar wirken. Er hat sich widersetzt. Die Metamorphose hat durch ihn an Macht verloren. Obwohl er immer dämonisch war, versucht er, wie ein Mensch zu leben, sogar in den dunkelsten Zeiten, und er hat bitter dafür bezahlt. Trotzdem hält es ihn nicht davon ab. Er stellt uns alle infrage. Deshalb sucht Angelo nach Menschen, die freiwillig übertreten. Er sucht Archetypen. Und er hat dich gefunden.«
»Wie? Wie hat er mich gefunden? Durch meinen Vater?«
Dieser Gedanke hätte Papa zerstört. Ich hoffte inständig, dass er von Angelos Jagd auf mich nichts gewusst hatte. Er hätte es sich niemals verziehen, auch nicht, dass Angelo François auf Paul gehetzt hatte. Doch es war nicht seine Schuld.
»Nachdem dein Vater vor einigen Jahren damit anfing, Mahre zu suchen, die sein Vorhaben unterstützten, wurde Angelo auf ihn aufmerksam und ich könnte mir vorstellen, dass er ihn beobachtet hat und dabei auch auf dich aufmerksam wurde. Eines ergab das andere. Dein Vater empfand ebenso viel wie du. Er hat sich widersetzt, obwohl er bereits ein Halbblut war. Doch der Wille eines jungen Mädchens sollte leichter zu brechen sein …«
»Dachte er«, führte ich Morpheus’ Satz hart zu Ende. »Das dachte Angelo nur. Aber das wird er nicht. Meinen Willen wird er nicht brechen.«
Angelo hatte mich beobachtet, bei meinen vielen Tränen und Träumereien, und alles, was er dabei empfunden hatte, war der Wunsch, mich auf seine Seite zu ziehen, um meinem Vater eins auszuwischen und seine eigene Macht zu verstärken. Er kotzte mich an. Und wenn ich übergetreten wäre und nicht so gespurt hätte, wie er sich das vorstellte, wäre mir vermutlich dasselbe widerfahren wie Papa. Hingerichtet am Capo Vaticano. Ich versuchte, den galligen Geschmack in meiner Kehle hinunterzuzwingen. Hustend und keuchend schluckte ich.
»Warum hast du mich ausgerechnet jetzt zu dir gerufen? Bin ich hier denn überhaupt sicher?«
»So sicher wie in Mutters Schoß. Es ist meine Insel, mein alleiniges Revier. Kein anderer wagt es, hier zu jagen. Und doch wurde ich von einem Mahr beauftragt, dich zu rufen. Ein junger, stolzer Mann mit großem Todesmut und ebenso großer Todessehnsucht hat mich darum gebeten, weil seine eigene Macht erschöpft war. Wir haben gerade über ihn gesprochen …«
»Colin«, schluchzte ich auf. Morpheus war der Mahr, dem er die Formel geraubt hatte, und obwohl er nicht wissen konnte, wie er ihm gesinnt war und Morpheus ihm beim ersten Versuch beinahe den Schädel zertrümmert hatte, war er erneut zu ihm gegangen, in sein Revier, um ihn um Hilfe zu bitten. Das war nicht todesmutig, das war gehirnamputiert. »Wie konnte er das nur tun? Er hätte dabei draufgehen können.«
»Die Hoffnung hat ihm offensichtlich Flügel verliehen.« Morpheus’ Augen schillerten in gleißender Helligkeit. »Er war nicht das erste Mal bei mir. Er kam kurz nach Tessas missglückter Metamorphose, auf der Flucht, und hatte unzählige Fragen. Als ich ihm nicht alle Antworten geben wollte, suchte er nach anderen Wegen. Ihr seid euch nicht unähnlich, du und er.«
Er hielt inne, denn ich begann zu weinen. Mein Schluchzen hallte in der kleinen steinigen Höhle wie das Klagen eines sterbenden Vogels, während ich mir
Weitere Kostenlose Bücher