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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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die eigenen Tränen nährten seine Wut nur zusätzlich, sodass er mit verschränkten Armen und in sich gekehrtem Blick abwartete, bis seine Gefühle sich wieder beruhigten. Manchmal hatte er auch geweint, weil er glaubte, versagt zu haben.
    Nun weinte er aus Trauer, wie ich.
    Seit einer Woche tat ich fast nichts anderes, ich verbarrikadierte mich in meinem Bett, alle Türen meines Zimmers verschlossen und verrammelt, und weinte oder schlief. Ich konnte nichts anderes tun. Wenn ich aufs Klo ging, was nun mal nicht zu vermeiden war, tat ich es in einem unbeobachteten Moment, um niemandem zu begegnen, und passierte es doch, versteckte ich mich hinter meinen Haaren. Den Blick in den Spiegel mied ich wie die Pest.
    Abends saßen Paul, Gianna, Mama und Herr Schütz draußen auf der Terrasse – Dr. Sand war schon am Tag nach Angelos Blendung abgereist, ebenso Morpheus – und redeten leise miteinander, während ich mir die Finger in die Ohren stopfte, um nichts verstehen zu müssen. Sie diskutierten über mich, vermutlich wie über eine Kranke, anders konnte es nicht sein, und ich würde es mir weder anhören noch Mamas Traurigkeit bewältigen können, wo sie doch wusste, dass der Mörder ihres Mannes um ein Haar ihre Tochter verführt hatte – nicht zum Sex, sondern zur Ewigkeit.
    Manchmal lachten sie sogar miteinander, was ich nicht verstand. Wie konnten sie lachen? Es machte mich nicht zornig, ich wollte es ihnen auch nicht vorwerfen, ich verstand es nur nicht.
    Papas Brief an mich lag gut verschlossen in meiner Nachttischschublade. Als Morpheus ihn mir gegeben hatte, hatte ich ihn sofort dort hineinverfrachtet. Ich wollte ihn nicht lesen – ich konnte es nicht. Nicht jetzt.
    Papa hatte es treffend formuliert; meine Seele schlug mit den Flügeln, aber sie wusste nicht, wohin sie aufbrechen sollte. Ich fühlte mich ebenso orientierungslos, wie Angelo es gewesen war, als er über das verdorrte Gras robbte. Die Stunden flossen zäh dahin, ohne dass ich sie einordnen konnte; ich wusste nicht, welchen Tag wir hatten, welche Woche, welchen Monat. Ich stellte nur fest, dass die Sonnenstrahlen jeden Morgen ein bisschen später durch die Ritzen der Läden drangen und das Licht abends schneller schwand.
    Doch welchen Monat schrieb der Kalender – August? September? Wie viel Zeit war vergangen, bevor ich im allerletzten Moment erkannt hatte, was richtig und was falsch war, nicht eingerechnet die hellen Momente auf Santorin bei Morpheus, in dessen Höhle ich mich gerne für immer verbarrikadiert hätte; nur die Steine, das Meer und ich?
    Ich hatte anfangs das Essen verweigert, weil sowieso nichts schmeckte und ich diesen ungesunden Gedanken hegte, dass ich keine Nahrung mehr verdient hatte, doch nachdem Mama mir damit gedroht hatte, mich ins nächste süditalienische Krankenhaus einweisen und zwangsernähren zu lassen, fügte ich mich und nahm die wenigen Mahlzeiten zu mir, die Gianna mir bringen durfte. Mit abgewandtem Kopf wartete ich, bis sie das Tablett auf meinen Nachttisch gestellt hatte und wieder gegangen war. Erst dann setzte ich mich auf und löffelte im Dunkeln. Oft verspürte ich starken Durst und starrte stundenlang die Wasserflasche auf dem Boden neben meinem Bett an, bis ich mich dazu überwinden konnte, sie zu öffnen und an meine Lippen zu halten.
    In einer der ersten Nächte war ich aufgewacht, weil Colin an meiner Bettkante saß. Ernst und vielleicht sogar ein wenig besorgt, aber ohne Vorwürfe oder Anschuldigungen in seinem schwarzen Blick sah er mich an. Er hatte wieder ein Gesicht, ein Gesicht, das ich lieben und anfassen und dessen Züge ich mit meinen Lippen nachzeichnen wollte. Ich hatte Hilfe suchend nach seiner kühlen Hand gegriffen und seine langen Finger an meine verweinte Wange gedrückt. Nach einer kurzen Weile hatte er sie mir wieder entzogen und war lautlos verschwunden.
    Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich konnte sein Verhalten nachvollziehen, wahrscheinlich war es seine Art gewesen, mir Adieu zu sagen, nachdem ich alles zwischen uns niedergetrampelt hatte in meinem heillosen Wahn. Trotzdem glaubte ich, ab und zu seine Aura wahrzunehmen und auch einen wärmenden Hauch auf meinen kalten Armen – kalt, weil ich mich vor der Sonne versteckte und zu wenig aß und trank –, aber das war wohl nur ein Wunschtraum, abgespeicherte Erinnerungen, die mich für immer begleiten und verhindern würden, dass ich vergaß, was ich getan hatte.
    Jetzt war Paul zu mir gekommen, ohne mich um Erlaubnis

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