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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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tatsächlich verschwunden wäre. Diese Frage ließ mir niemals Ruhe. Denn immer wieder gab es Situationen, in denen Dein Misstrauen stärker wurde als Dein Vertrauen und ich darüber nachdachte, ob ein anderer Mann geeigneter für die Vaterrolle in dieser Familie wäre. Doch Deine Mutter – von ihr müsst Ihr Eure Sturheit geerbt haben – bestand darauf, dass ich blieb, weil sie der Meinung war, es könne für sie keinen besseren Mann und für Elisabeth und Dich keinen besseren Vater als mich geben.
    Elisabeth mag in Deinen Augen die leichtere Position gehabt haben, weil sie mich nie anders kennengelernt hatte als den, der ich bin, halb Dämon, halb Mensch. Aber dafür hat sie es mit sich selbst weitaus schwieriger. Die Ruhe und Geduld, die Dir eigen sind – Neider würden es als Phlegma bezeichnen –, werden ihr verwehrt bleiben. Sie wird immer mit ihren Flügeln schlagen, während Du Deine längst ausgebreitet hast.
    Paul, ich weiß nicht, was Du weißt, ich weiß nicht, was inzwischen geschehen ist. Ich habe Vermutungen und sie sind schlimm genug. Doch sei gewiss, dass Deine Mutter und ich oft darüber geredet haben. Sie hat nie versucht, mich von meinen Plänen abzubringen, vielleicht weil sie insgeheim hoffte, dass eines Tages Ruhe einkehren würde. Und ich kann diese Hoffnung verstehen. Denn auch ich wünsche mir nichts sehnlicher als Ruhe.
    Ich hätte sie lieber mit Euch genossen, im Leben, nicht im Tod. Aber das Netz hat sich zugezogen. Ich sitze in der Falle. Einige wenige – sehr wenige – wollen irgendwann sterben, wären sogar bereit, den Menschen im Gegenzug zu helfen, obwohl ich nicht weiß, wie ich ihnen helfen sollte zu sterben. Aber die meisten klammern sich an ihre Unendlichkeit.
    Nun gab es nur noch eine Frage zu beantworten und ich brauchte keine einzige Sekunde, um darüber nachzudenken: Bleibe ich um der Sache willen oder gehe ich um meiner Kinder willen?
    Das war der Handel, erpresserisch und billig, aber mit einem hohen Preis, den ich immer wieder zahlen würde: mein Leben für das meiner Kinder und das meiner Frau.
    Was Elisa betrifft: Ich habe auch ihr einen Brief geschrieben. Und ich habe sie in meiner Safebotschaft – sicher hast Du davon erfahren – deshalb damit beauftragt, meine Nachfolge zu übernehmen, weil sie es sowieso versucht hätte – sie kann ihre Nase nicht aus den Dingen nehmen, die sie nichts angehen – und ich ihr wenigstens einen Schuldigen geben wollte, ihr und Deiner Mutter, falls es schiefgeht. Vor allem aber habe ich darauf gebaut, dass sie sich weigert, diesen Auftrag anzunehmen. Es würde zu ihr passen, genau das nicht zu tun, worum man sie bittet.
    Es ist sowieso eine Aufgabe, deren Zweck ich mehr und mehr infrage stelle. Ich musste wohl erst lernen, dass nichts zu verändern ist, wo keine Gefühle im Spiel sind.
    Wir waren zu wenige.
     
    Es ist schwer, nein, unmöglich, kluge letzte Worte zu finden, die ein Vater seinem Sohn sagen kann.
    Deshalb sage ich nur, dass ich Dich liebe und es immer getan habe, als Mensch und als Halbblut. Nicht die stärkste dämonische Gier in mir hätte daran etwas ändern können.
     
    Bleib, wie Du bist, ärgere Dich nicht über das, was Dir nicht gelingt, sondern freue Dich an dem, was Du bewirkst. Deine Patienten werden es zu schätzen wissen und Deine Frau wird Dir treu bleiben – weil Du es bist. Du bist treu, Paul.
    Ich weiß, dass Du es auch mir gegenüber warst. Ich weiß es.
    Und das macht mich glücklich.
     
    Leb wohl
    Dein Vater
     
    PS Hat Elisa zufällig eine Gianna Vespucci kennengelernt? Ich habe ihre Visitenkarte in den Safe gelegt. Ich habe sie auf einem Kongress getroffen und hatte sofort diese untrügliche väterliche Ahnung, dass sie eine gute Freundin für Ellie sein könnte. Gleichaltrige Mädchen sind mit ihr überfordert. Sie braucht jemanden, der gegenhalten kann. «
     
    Pauls Stimme war unverändert geblieben, während er mir Papas Zeilen vorgelesen hatte, doch als er den Brief zusammenfaltete und ich schluchzend zu ihm aufsah, bemerkte ich, dass auch er weinte. Es hatte mir schon immer tief ins Herz geschnitten, wenn mein Bruder weinte. Er tat es so still, dass es den Menschen oft verborgen blieb. Er schluchzte nicht, er tobte nicht, kein Wimmern, kein Schnauben verriet seine Seelenlage. Er weinte ohne Regung. Es kündigte sich nicht an; von einer Sekunde auf die andere waren seine Augen nass und das Wasser lief dünn über seine Wangen. Früher hatte Paul meistens aus Trotz und Wut geweint und

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