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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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lassen könnt.
    Raubt Träume. Aber bleibt in eurem Totenreich. Ihr könnt keine Kriege führen, weil ihr nichts fühlt. Keine einzige Schlacht werdet ihr jemals gewinnen. Angelo wird euch stets daran erinnern, dass es ist, wie es ist. Menschen fühlen und sterben. Mahre sind Tote für die Ewigkeit. Und nur sie«, er deutete auf mich, »sie allein kennt den Weg zurück. Vernichtet nicht, wer euch am Ende retten kann.«
    Nun standen meine Krieger dicht nebeneinander, bildeten einen Halbkreis mit Morpheus in ihrer Mitte, ein schützender Zirkel in meinem Rücken. Entweder wir alle überlebten oder wir starben. Noch immer verbargen sich die Mahre in ihren Höhlen und im Schatten ihrer Steine, nicht fähig, uns ihre leeren, finsteren Gesichter zu zeigen. Sie waren feige. Sie würden nicht hervorkommen. Wir waren zu viele.
    Ich ließ meine Fackeln fallen. Sofort fraßen sich die Flammen in gewundenen Feuerspuren durch das trockene Gras, leckten an Angelos nackten Füßen und ließen meine Augen tränen. Ich würde wieder weinen. Tagelang. Wochenlang.
    »Friss Dreck, Michelangelo«, sagte ich so leise, dass nur er es hören konnte. »Viel Spaß mit deiner Unsterblichkeit. Genieße sie.«
    Ohne jegliche Reue drehte ich mich um und lief durch die anderen hindurch von ihm fort.
    Es gab nichts mehr zu tun.

UM MEINER KINDER WILLEN
    »Mein lieber, lieber Paul,
     
    wenn Du diese Zeilen liest, ist das geschehen, womit Deine Mutter und ich schon lange gerechnet haben. Was mir in Gedanken daran am meisten auf dem Herzen lastet und stets ein dringendes Bedürfnis war, ist, Dich von dem irrigen Glauben zu erlösen, Du würdest eine Schuld auf Deinen Schultern tragen, weil Du mich nicht erhört hast. (Falls Du mir immer noch nicht glaubst, solltest Du diesen Brief beiseitelegen oder ihn vernichten. Falls Du mir glaubst, lies weiter.)
    Du hast keine Schuld, nicht die geringste. Ich gebe zu: Es ist kein Tag vergangen, an dem ich mich nicht gefragt habe, wie es Dir wohl geht und ob ich Dich jemals wiedersehen werde, ob Du mir verzeihst, und ich hätte es mir so sehr gewünscht. Doch Du hast alles richtig gemacht, indem Du mir den Rücken zugewandt hast und gegangen bist – denn Du hast es aus Liebe getan.
    Du warst kein Kind mehr, sondern ein Mann, zwar jung und unerfahren, aber nicht mehr so jung, dass Du mich noch brauchtest, um zurechtzukommen. Und Du hast aufrichtig geliebt. Du musstest gehen, Du hattest gar keine andere Wahl und Du musstest denken, dass ich es war, der Lilly von Dir weggelockt hat. Denn indirekt war ich es. Meine Abenteuerlust hat mich auf die Insel getrieben und ich habe mit dem, was geschehen ist, dafür bezahlt, aber vor allem habt Ihr, meine Kinder, dafür bezahlt, Ihr und meine Frau. Du hattest alles Recht der Welt, nicht daran zu glauben und Dir eine andere Wahrheit zu suchen, aber ich hoffe sehr, dass Deine Schwester erfindungsreich und halsstarrig genug war, um Dir zu zeigen, dass wenigstens wahr ist, was ich erzählt habe, auch wenn diese Erkenntnis die Geschehnisse der Vergangenheit nicht besser machen kann.
    Ich habe versucht, Dir ein guter Vater zu sein, und an meiner Liebe zu Dir gab es nie den geringsten Zweifel. Doch im Gegensatz zu Elisa hast Du die Veränderungen, die in mir vorgingen, miterlebt und mir nie wieder restlos vertraut, so wie früher, wenn ich Dich auf meinen Schultern tragen oder in die Luft werfen und auffangen konnte, ohne dass Du die geringste Angst verspürtest.
    Du warst zu klein, um Dich heute bewusst daran zu erinnern, doch Kinder haben feine Sinne und der Mann, der von der Schiffsreise zurückkehrte und Dich in den Arm nahm, war nicht der gleiche, von dem Du Dich verabschiedet hattest. Dein Vater hatte sich verändert. Immer öfter blieb ich tagelang weg, arbeitete die Nächte durch, machte mit Euch Urlaub in finsteren, abgelegenen Gegenden, damit Euch mein Hunger nicht in Gefahr brachte, der sich stets dann in mir erhob, wenn der Mond voll war oder die Sonne mir zeigte, was mit mir geschehen war. Das Haus hatte ich verdunkelt, mit wildem Wein vor den Fenstern und Jalousien überall; Deine Mutter und ich schliefen fast jede Nacht getrennt, obwohl wir uns immer liebten. Niemals habe ich Lust auf die Träume meiner Kinder verspürt, doch ich wollte kein Risiko eingehen. Also lebten wir in der Dämmerung, wo doch alles Leben das Licht braucht.
    Es tut mir leid, dass es so war und nicht anders sein konnte. Vielleicht hätte ich Dir einen größeren Gefallen getan, wenn ich

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