Dornenkuss
Schlimmsten bewahrt. Bis zur letzten Sekunde hatte Angelo keinen Zweifel gehegt, dass ich mich für ihn entscheiden würde – wie auch, wenn ich selbst keine gehabt hatte? Als ich Tillmann angefleht hatte, mich zu begleiten, hatte ich nur auf meinen Bauch gehört und auf nichts anderes und meine Bindung zu ihm war stark genug gewesen, um ihn dabeihaben zu wollen. Ich wunderte mich im Nachhinein über meine eigenen Worte. Mein Gehirn war meinen Emotionen kompromisslos gefolgt.
Tillmann hatte meinen Wunsch erfüllt. Er hatte nicht angenommen, dass ich ihn allein meinte, als ich sagte, dass ich die dabeihaben wolle, die ich liebe. Sondern sie alle. Und warum? Weil er mir zugehört hatte, während meine Ohren längst taub geworden waren.
Gestatte dir deine Gefühle … Gestatte dir deine Gefühle, hatte Morpheus mir geraten. Er kann deine Gedanken lesen. Oh, ich hatte mir meine Gefühle gestattet, ich hatte mich ohne Sinn und Verstand hineinfallen lassen. Aber womöglich hatte diese Fähigkeit uns alle gerettet, auch wenn ich sie nach wie vor an mir verabscheute und mich dafür bestrafen wollte, dass ich erneut zu Angelo gegangen war und um seine Nähe gewinselt hatte, unterwürfig und willig. Doch es hatte mich geschützt. Er hatte keinen anderen Plan in mir erkennen können als den, der seinem eigenen entsprach, weil meine Sehnsucht und Wehmut alles Übrige erstickten.
»Gib dir einen Ruck, Ellie. Sprecht euch aus. Er kann es gebrauchen.« Paul klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. Ich zuckte vor Schmerz zusammen. Die Rippenfraktur war nicht dramatisch, lediglich unangenehm, doch ich hatte niemandem erzählt, wie ich sie mir zugezogen hatte. Das wusste nur ich selbst.
»Paul, kommst du zum Essen?«, rief Gianna von draußen. »Ich hab Tillmann einen Teller hochgebracht. Will Ellie auch etwas?«
»Nein«, entschied ich rasch. »Ich will nichts!« Ich senkte meine Stimme wieder, damit nur Paul mich hören konnte. »Wenn ich jetzt nicht zu ihm gehe, mache ich es nie.«
»In Ordnung. Ellie, eines will ich dir noch sagen. Mama hält sich wacker. Papa war nicht nur bei uns. Er war auch bei ihr. Und Morpheus … er – oder sie?« Er schmunzelte. Ich zuckte mit den Schultern.
»Ich glaube, das kannst du entscheiden. Er ist für beides offen.«
»Na, egal. Sie, er, ist doch wurscht. Morpheus hat ihr jedenfalls auch etwas … hm. Gegeben. Keinen Brief, meine ich. Sondern etwas von Papa. Es tröstet sie. Du darfst dich nicht zu sehr grämen. Bitte, versprich mir das.«
»Ich weiß aber nicht, wie ich das alles wiedergutmachen soll …« Meine Hände blieben in der Luft stehen, weil ich es nicht wagte, mir durch die Haare zu fahren, wie ich es hatte tun wollen. Ich berührte mich nur, wenn es nicht zu umgehen war. Das Einzige, was ich bisher angefasst hatte, waren meine Augen, meine Ohren und meine Wangen.
»Nur nach und nach. Es erwartet sowieso niemand von dir. Fang bei Tillmann an. Immerhin kannst du mit ihm sprechen. Ich kann nicht mehr mit Papa sprechen und ich habe viel mehr gutzumachen als du.«
Er log, um mich aufzumuntern, und ich korrigierte ihn nicht. Ich hatte noch keinem sagen können, was Angelo mit mir getan hatte, dass er meine ganze Jugend und all meine Tagträumereien besudelt und missbraucht hatte. Ich wusste nicht mehr, was aus mir selbst entsprungen und was von ihm genährt worden war. Ich traute mich nicht, Musik zu hören, aus Angst, dass die alten Bilder vor meinen Augen auftauchten, Bilder von Grischa, der hoffentlich wieder er selbst wurde, Bilder, die mich von nun an unweigerlich an Angelo erinnern würden. Bilder von Colin fürchtete ich jedoch ebenfalls. Ich durfte nicht von ihm träumen. Er war nicht mehr bei mir. Vielleicht war das das Bedrohlichste und Deprimierendste an der ganzen Situation: dass ich nichts mehr hatte, wovon ich träumen konnte.
»Okay«, sagte ich heiser. »Ich gehe zu ihm, jetzt gleich, sobald du draußen bist und ihr esst.« Damit ich keinem von euch begegnen kann.
Ich wartete noch ein paar Minuten ab, nachdem Paul sich auf die Terrasse gesetzt hatte, mit den Händen auf meinen Ohren, dann stand ich schwerfällig auf und stakste auf unsicheren Beinen die Treppe hinauf.
DER GANG NACH CANOSSA
Ich zwang mich wenigstens zu einem kurzen Blick auf meinen Oberkörper und meine Beine – unscharf, als wäre ich stark kurzsichtig –, um zu überprüfen, ob ich einigermaßen vorzeigbar war (ich war es, ich trug einen kurzen, schlichten Schlafanzug mit Streifen, der
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