Dornenkuss
es diese Träume. Oder aber Träume, in denen ich aus eigenen Stücken zu ihm zurückging, als wäre nichts geschehen, Träume, in denen ich darüber hinwegsah, dass er meinen Vater getötet hatte, und mich wieder zu ihm ans Klavier stellte. In diesen Träumen hatte er Augen. Sie waren nachgewachsen und er war schön wie immer.
Trotzdem waren es Albträume. Denn irgendwann in diesen Träumen wurde mir bewusst, dass ich etwas Falsches machte, etwas Gefährliches, ja, es war lebensgefährlich. Ein zweites Mal würde ich ihn nicht überlisten können. Jetzt war er gegen mich gefeit. Er würde jeden meiner Gedanken erahnen, bevor ich ihn überhaupt fassen und umsetzen konnte, und auch meine Gefühle gehörten ihm. Nun musste ich für immer bei ihm bleiben.
»Nur Träume, Ellie«, sprach ich mir Mut zu, während ich zaudernd vor den geschlossenen Läden stand. »Sonst nichts.« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er es geschafft hatte, nach der Blendung und dem Feuer von der Sila bis hier hinuntergekrochen zu sein. Vielleicht hatten die anderen ihn auch mitgenommen, obwohl ich überzeugt davon war, dass Mitleid nicht zu den hervorstechenden Charaktereigenschaften der Mahre gehörte. Am ehesten war anzunehmen, dass er sich irgendwo in dem verlassenen Dorf verbarrikadiert hatte.
Ich hatte keinen Mord mehr begehen wollen, aber mir wäre wesentlich leichter zumute gewesen, wenn wir ihm den Garaus gemacht hätten. Doch damit hätte ich uns alle einer ständigen Gefahr ausgesetzt. Solange er existierte und die Mahre als lebendiges Mahnmal daran erinnerte, dass mit uns Menschen nicht zu scherzen war, befanden wir uns in Sicherheit. Redete ich mir jedenfalls ein.
Was jedoch, wenn meine Träume einen winzigen Wahrheitsgehalt hatten? Eine Art prophetische Vorsehung? Lungerte er noch hier herum? Nein, dann hätten Mama und Paul mich längst nach Hause gebracht. Trotzdem kam ich mir vor wie in einem dieser ekelhaften Horrorfilme, in denen der Bösewicht nicht totzukriegen ist und immer wieder von Neuem seine Axt zu schwingen beginnt, als ich mit kalten, schwitzenden Händen die Verriegelung der Holzläden öffnen wollte und plötzlich spürte, dass dort draußen jemand war. Da war jemand! Er hatte sich gerade eben auf unser Grundstück geschlichen und lauerte mir geduldig auf, wohl wissend, dass ich mich irgendwann zeigen würde, weil die Nacht mich immer noch ins Freie lockte. Wahrscheinlich war es seine Anwesenheit, die mich geweckt hatte, nicht mein Bedürfnis nach frischer Luft, Letzteres hatte er mich nur glauben lassen, weil er vermeintliche Freiwilligkeiten liebte wie nichts anderes. Beinahe wäre ich darauf reingefallen. Ich verharrte, ohne zu atmen, die Hand an der Verriegelung, voller Furcht, dass die geringste Regung mich verraten könnte. Dabei wusste er doch, dass ich hier war … Er wusste es ganz genau.
Was jetzt? Um Hilfe rufen? Weglaufen? Nach oben, zu Tillmann, oder zu Paul und Gianna? Das würde keinen Sinn machen, er war schneller, und wenn nicht, würde er sie mit hineinziehen …
Mein Körper wehrte sich gegen meine erzwungene Atemlosigkeit und wollte sich Sauerstoff zuführen, ungeachtet der grauenvollen Tatsache, dass ich Schritte nahen hörte, schwere Schritte, tapp, tapp, tapp, die Treppe hinauf auf die Terrasse, jetzt sah ich ihn auch, ein markanter Schemen, in unzählige Streifen geteilt durch die Holzlamellen vor meinen Augen. Er wurde größer, kam direkt auf mich zu, wurde immer schwärzer und mächtiger. Mit einem keuchenden Atemzug erkämpften sich meine Lungen ihre Luft zurück, obwohl ich es hatte verhindern wollen, und ich roch – Schweiß. Schweiß? Ja, das war herber Männerschweiß, vermischt mit Rasierwasser. Hatte Angelo so gerochen? Nein, nicht ein einziges Mal. Er hatte nach gar nichts gerochen. Dieser Duft hier kam mir dennoch bekannt vor, beinahe vertraut …
»Hey! Sssst!«, zischte es hinter den Lamellen. »Aufwachen, Sturm! Schieb deinen Hintern zu mir raus, du Schlafmütze!«
Ich ließ meine Hand sinken und hob sie sofort wieder, um mir an die Stirn zu greifen, wo mein Angstschweiß sich in einem warmen Schauer der Erleichterung löste und brennend in meine Augen sickerte. Das war nicht Angelo. Auch nicht ein geblendeter Angelo.
»Stürmchen, hallo!«, zischte es erneut hinter den Läden, dicht vor mir. Ein scharfes Pfefferminzbonbonaroma stieg in meine Nase. Sind sie zu stark, bist du zu schwach – Fisherman’s Friends, konzipiert für Machos und Möchtegernhelden. Im
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