Dornenkuss
verwirklichen. Hier, damit müsste es klappen.« Sie zog eine knallbunt gemusterte Tüte hinter ihrem Rücken hervor und leerte sie auf meiner Bettdecke aus. Bürsten und Kämme in unterschiedlichen Größen und Stärken purzelten auf meine Knie, dazu eine Haarkur, Spray zum Entwirren, Schaumfestiger, Spitzenbalsam – Gianna musste einen Friseursalon ausgeraubt haben. »Oder sollen wir sie abschneiden?«, setzte sie drohend hinterher, als ich nichts dazu sagte, sondern nur apathisch die Flaschen und Tuben beäugte.
»Auf gar keinen Fall!«
»Dann spring unter die Dusche und wir machen wieder einen Menschen aus dir. Es wird Zeit.«
»Aber die anderen …«, wandte ich abwehrend ein. Mir war schon Giannas Gegenwart beinahe zu viel. Mehr Zuschauer würde ich nicht ertragen.
»Wir sind allein. Paul ist in aller Frühe aufgestanden, um Manfred zum Flughafen zu bringen und danach mit Mia ans Capo Vaticano zu fahren.«
»Herr Schütz ist schon weg?«, rief ich bestürzt. »Ich wollte mich doch noch von ihm verabschieden … Und wieso fahren sie ans Capo Vaticano, wie kann Mama das nur tun?«
»Weil sie Abschied nehmen möchte. Ich weiß, das alles ist traurig und tut furchtbar weh, aber es muss irgendwie weitergehen und es geht auch weiter. Wir konnten es ihr nicht ausreden, sie wollte dorthin. Husch, husch, ins Bad mit dir, bevor das Wasser wieder abgestellt wird.«
»Bist du sicher, dass du das willst? Mich kämmen? Ich meine …« Ich wusste nicht, welche Worte ich wählen sollte, doch Giannas betroffener Gesichtsausdruck verriet mir sofort, dass sie verstand, worauf ich anspielte – nämlich auf ihr zwanghaft distanziertes Verhalten mir gegenüber in den vergangenen Wochen.
»Das ist vorbei«, murmelte sie entschuldigend. »Es war in dem Moment vorbei, als du ihm die Fackeln in die Augen gestoßen hast, obwohl ich vor Ekel fast vergangen bin … Doch nachdem das geschehen war, warst du wieder unsere Ellie.«
»An der ihr früher ständig rumgekrittelt habt«, setzte ich mit einem leisen Vorwurf hinterher, obwohl ich ganz gewiss nicht streiten wollte.
»Ja, das haben wir wohl und das war ein großer Fehler. Aber wir haben es nicht getan, weil wir dich so nicht mochten, sondern weil wir glaubten, dass du es leichter haben könntest, wenn du dich anders verhalten würdest«, argumentierte Gianna; Begründungen, die ich nicht zum ersten Mal hörte.
»Leichter gibt’s für mich nicht«, erwiderte ich barsch. »Gab’s noch nie. Und ich hab’s satt, mir alle naselang sagen zu lassen, dass ich mich locker machen und runterkommen und alles nicht so eng sehen soll … wie Tillmann das zum Beispiel ständig tut …«
»Männer!« Gianna winkte souverän ab. »Die finden eine Frau doch schon kapriziös, wenn sie sich morgens nicht entscheiden kann, ob sie die blaue oder die schwarze Jeans anziehen soll. Darauf darfst du nichts geben. Männer wollen es einfach. Das sind emotionale Höhlenmenschen. Frau mit der Keule bewusstlos schlagen, hinter einen Busch ziehen, begatten. Und wehe, sie will danach reden.«
Emotionale Höhlenmenschen. Ich musste kichern angesichts Giannas Übertreibungen, doch gleichzeitig versetzte mir ihre Formulierung einen Stich ins Herz. Morpheus lebte in einer Höhle und Colin hatte es ebenfalls getan. Wo war er eigentlich?
»Na komm, raff dich auf, Ellie«, ermunterte Gianna mich. »Geh duschen, ich mache uns inzwischen einen starken Kaffee!«
Ich gab seufzend nach, schlich ins Bad und duschte mit dem Blick zur Wand. Mich selbst wollte ich immer noch nicht anschauen, und um meine Haare zu waschen, benutzte ich den großen Schwamm. Ich schäumte ihn ein und fuhr mit ihm über meine Locken, dann ließ ich das Wasser so lange über meinen Kopf laufen, bis auch die letzten Seifenreste herausgespült sein mussten.
Mit dem Rücken zum Spiegelschrank – leider ein Ganzkörperspiegelschrank, vor dem es nur ein Entkommen gab, wenn es dunkel war, weshalb ich mit Vorliebe nachts und während der Siesta bei geschlossenen Läden ins Bad gegangen war – wartete ich auf Gianna. Glücklicherweise beeilte sie sich, denn ich begann mich selbst nervös zu machen, weil ich mir immer stärker meiner nackten Haut bewusst wurde, je länger ich hier saß und das Wasser aus meinen Haaren zu Boden tropfte. Doch Gianna schnalzte missbilligend mit der Zunge, als sie mein Elend erblickte.
»So wird das nicht klappen, Elisa. Du musst dich schon umdrehen, damit ich dich im Spiegel sehen kann.« Sie zückte einen
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