Dornenkuss
Ich hasste es, wenn Menschen stanken.
»Ach, woher denn …« Gianna schnaubte amüsiert. »Du bist doch kaum mehr aus dem Wasser rausgekommen.« Ihr Lächeln verschwand, als sie sich erinnerte. »Du warst oft stundenlang im Meer, weit draußen, und dann ist dein Kopf verschwunden und wir dachten, du wärst ertrunken … bis er plötzlich wieder zu sehen war. Ich hab solche Angst gehabt.«
»Um mich oder vor mir?«
»Beides.« Gianna nahm eine Strähne, sprühte sie ein und begann sie zu bearbeiten. »Meistens um dich, aber auch vor dir, weil du … Du warst weg. Ich hab versucht, mit dir zu reden, aber du hast nicht zugehört, ich kam nicht mehr an dich heran, deine Augen waren immer woanders, als würden sie Dinge erkennen, die wir nicht sehen oder nachvollziehen konnten. Es war gruselig.«
»Ich war gruselig«, verbesserte ich sie mit zusammengebissenen Zähnen, denn ihre Kämmversuche zerrten an meiner Kopfhaut.
»Nein, du warst …« Gianna dachte nach, während sie konzentriert einen Knoten aus meinen Haaren löste. »Du hast mich an antike Sagengeschichten erinnert, an irgendwelche Halbgöttinnen oder Fabelwesen, du warst schön, wirklich schön, aber auf eine Furcht einflößende Art. Du bist aus dem Meer gestiegen wie die Königin von Saba …«
»Kenne ich nicht.«
»Elisa, man kann es nicht beschreiben, ob du die Königin von Saba kennst oder nicht. Ich werde es jedenfalls nie vergessen. Du warst ein Anblick, wie ihn Künstler oder Bildhauer festhalten würden. Ein mythisches Weib aus uralten Büchern, das plötzlich lebendig geworden ist. Und als du dann den Berg hochgelaufen bist, nackt, mit dem Skorpion um den Hals und den Schlangen im Haar – das hätte man filmen müssen. Echt. Filmen, cutten, ab nach Hollywood und noch einen Helden dazu. Nicht Angelo. Einen echten Helden.«
»Wir hatten einen Helden. Sogar zwei«, erinnerte ich sie. Ich dachte wie so oft an den Augenblick zurück, in dem Colin und Tillmann mir die Fackeln zugeworfen hatten und ich plötzlich wusste, was ich zu tun hatte.
»Nein. Die Heldin warst du. Basta.« Zwei Strähnen hatte Gianna schon befreien können. Mit finsterer Entschlossenheit nahm sie sich die nächste vor.
»Was für eine beschissene Heldin muss ich gewesen sein, wenn man sich vorher vor ihr fürchten musste … Ihr habt sogar das Haus verlassen, weil ihr mich nicht mehr ertragen konntet. Ihr wart nicht mehr hier!«
»Wir sind nach Rom gefahren, meine Liebe, und haben dich dort gesucht, weil Tillmann die Anrufe auf seinem Handy zurückverfolgt hat und wir bei einem römischen Anschluss gelandet sind … Leider war ständig besetzt.« Gianna bedachte mich mit einem mütterlichen Blick, der ihr gar nicht schlecht stand.
»Italienische Flughäfen«, klärte ich sie auf.
»Das dachten wir uns. Irgendwann kriegten wir heraus, dass du eine Maschine nach Santorin genommen hattest, und standen an der Rolltreppe, um dir nachzufliegen, als Tillmann Paul auf dem Handy anrief und sagte, dass du schon wieder da seist und wir dringend kommen sollten. Er war es auch, der Dr. Sand herbeigeordert hat, mit dem wir vorher quasi eine Standleitung hatten, weil wir ihn wegen dir um Rat fragten. Warte, ich muss mich mal setzen, mein Kreuz tut weh.«
Gianna klappte den Klodeckel um und ließ sich darauf nieder. »Außerdem hat Tillmann Colin Bescheid gesagt und der wiederum hat Morpheus geholt. Und irgendwie hat es geklappt.«
Dr. Sand … Stimmt, der hatte ja mit mir sprechen wollen am Telefon, kurz bevor sie mir den Film gezeigt hatten. Doch es hatte eine Funkstörung gegeben. Vielleicht meinetwegen? War zu diesem Zeitpunkt bereits so viel auf mich übergegangen, dass ich selbst die Technik irritieren konnte? Oder hatte ich diese Störung hören wollen?
Ich griff selbst nach dem Kamm, damit Gianna ein Päuschen einlegen und ich mich von diesen unguten Gedanken ablenken konnte, und versuchte an einer besonders verfilzten Strähne mein Glück, bis ich kurzerhand eine Schere nahm und das Ende abschnitt. Ich hatte wahrlich genug Haare, es würde nicht weiter auffallen.
»Gianna … ich sag das nicht, weil ich es dir vorwerfe, ich versuche nur, die vergangenen Wochen zu rekonstruieren und zu verstehen, was alles geschehen ist und warum. Ihr wart auch vorher weg, oder? Ich hatte das Gefühl, dass das Haus leer war.«
»Na ja, okay, ich gebe es zu …« Gianna lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Ich wollte nicht mehr in diesem Haus schlafen, aber nicht nur wegen dir,
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